«Du kannst stolz auf dich selbst sein!», sagt die Sozialpädagogin Damaris Diethelm und zwinkert dem Oberstufenschüler Jonas zu. Sie sitzt zusammen mit ihm im Beratungszimmer des tipiti Lernhauses im sankt-gallischen Wil. Gerade hat Jonas per Telefon die Zusage für eine Lehrstelle als Zimmermann erhalten. Das Telefongespräch hat er zusammen mit Diethelm vorbereitet. Jonas schreibt seinen Eltern sofort eine WhatsApp-Nachricht.
Jonas hat schon die zweite Zusage für eine Lehrstelle erhalten. Nun hat er die Qual der Wahl.
Am Abend will der Vater den Erfolg mit einem Kuchen feiern – bereits zum zweiten Mal, denn vor wenigen Tagen hat Jonas schon eine Zusage erhalten. Nun hat er die Qual der Wahl: Soll er sich für den grösseren, professionelleren Betrieb mit einem umständlichen Arbeitsweg oder für den Kleinbetrieb in der Nähe seines Wohnortes entscheiden? «Lass es mal setzen und sprich heute Abend mit deinen Eltern darüber», rät ihm Diethelm.
Gewinner des Richard-Beglinger-Preises
Jonas geht noch in die Oberstufenschule des Lernhauses. Die Tagessonderschule richtet sich an Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. Sie legt grossen Wert auf die Berufswahl und den Einstieg in die Berufswelt. Für ihr Engagement hat die Schule im November 2023 den Richard-Beglinger-Preis gewonnen.
Der Schulalltag in Wil ist stark ritualisiert. Um 8 Uhr treffen die Jugendlichen ein – manche frühstücken in der Schule. Um 8.20 Uhr müssen alle in der Startrunde sein. Dort legen die Jugendlichen und die Fachpersonen gemeinsam fest, wer in den kommenden vier Lektionen von welcher Lehrperson unterrichtet wird und wer beim Kochen hilft. Nach dem Unterricht und dem gemeinsamen Mittagessen folgen am Nachmittag die thematischen Gruppenarbeiten. Um 16.15 Uhr treffen sich wieder alle für die Schlussrunde. Die Jugendlichen erhalten zu jeder Lektion eine Rückmeldung zu ihrem Verhalten und ihrer Leistung. Um 17 Uhr ist Schulschluss.
Unterstützung auch nach Schulabschluss
Vor dem Mittagessen besucht Sozialpädagogin Diethelm in einer nahegelegenen Kleintierpraxis die ehemalige Oberstufenschülerin Jessica. Solche Besuche sind Teil der nachschulischen Begleitung. Jessica absolviert ein einjähriges Praktikum als tiermedizinische Praxisassistentin. Seit drei Monaten arbeitet sie nun schon in der Praxis, sorgt für Sauberkeit im Behandlungsraum und assistiert bei Behandlungen und Operationen. «Es macht Freude, wenn ein Patient zur Kontrolle kommt und es ihm wieder besser geht», schwärmt Jessica. Doch gibt es auch belastende Situationen, und bei Operationen wird ihr ab und zu schwindlig. Dann darf sie jeweils rausgehen. «Kommt das oft vor?», fragt Diethelm. «Nein, eigentlich nicht mehr, seitdem ich jeden Morgen frühstücke, wie du mir geraten hast», antwortet Jessica. Dass auch der Tod eine Realität in der Tierpraxis ist, musste sie bereits in der ersten Arbeitswoche erfahren. Über die bei ihr ausgelösten Gefühle konnte Jessica mit Diethelm reden.
Wer will, kann weiterhin zum Mittagessen ins Lernhaus kommen.
Es ist zwölf Uhr. Jessica zieht sich um und geht anschliessend zusammen mit Diethelm ins tipiti Lernhaus zum Mittagessen. Auch dies gehört zur nachschulischen Begleitung: Wer will, kann weiterhin zum Mittagessen ins tipiti kommen. Das gewohnte Umfeld gibt Sicherheit und Geborgenheit.