Neue Lehrpläne

«Eine Kompetenz ist an konkrete Inhalte gebunden»

Beim neuen Rahmenlehrplan für Gymnasien wiederholt sich die Kritik am Lehrplan 21. Zu reden gibt erneut die Ausrichtung auf Kompetenzen. Franz Eberle, der das Projekt als Experte begleitet, verteidigt das Konzept. 

Franz Eberle im Gespräch
«Kompetenzorientierter Unterricht ist gar nicht so weit von dem entfernt, was eine gute Lehrperson sowieso macht», sagt Franz Eberle. Fotos: Philipp Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Sie haben einst als Maturand eine Schulklasse unterrichtet. Wie kam es dazu?

FRANZ EBERLE: Das war 1975. Damals fehlten wie heute Lehrpersonen, und es wurden Maturanden als Aushilfen gesucht. Ich wollte vor dem Beginn meines Studiums Geld verdienen und erhielt prompt eine Stelle in Mols im Kanton St. Gallen. Es war eine Mehrjahrgangsklasse von der vierten bis zur sechsten Klasse. Nach einer einwöchigen Einführung ging es los.

Wie fühlten Sie sich?

Ich war unglaublich nervös. Am Sonntag besuchte ich einen Schwager, der Lehrer war. Er gab mir letzte Tipps. Nach einer schlaflosen Nacht reiste ich nach Mols, wo mich ein etwas misstrauischer Schulratspräsident erwartete. Der Start gelang mir aber gut und das Unterrichtsquartal ging sehr gut über die Bühne.

Was raten Sie jungen Leuten, die wie Sie damals an Schulen einspringen?

Sie sollen die Einführungsangebote nutzen und sich daran erinnern, was einem in der eigenen Schulzeit gefallen hat: Ich schätzte eine gute inhaltliche Struktur, wenn ich zum Mitdenken angeregt wurde, wenn ich respektvoll behandelt und unterstützt wurde, sowie klare Regeln. Damit setzte ich damals intuitiv auf vier Pfeiler für einen guten Unterricht. Die Fachbegriffe lernte ich erst viel später kennen, als ich dann mein Lehrdiplom erwarb.

ZUR PERSON

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik und ehemaliger Direktor der Abteilung Lehrerinnen- und Lehrerbildung Maturitätsschulen des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Er begleitet die Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität und des Rahmenlehrplans als wissenschaftlicher Experte.

Viele befürchten, wegen Laiinnen und Laien im Schulzimmer leide die Qualität. Was sagen Sie dazu?

Damit das nicht geschieht, muss deren Einsatz eine vorübergehende Notlösung bleiben. Wichtig ist, dass sich diese Personen nachqualifizieren können.

Wie Sie damals?

Genau. Ich wollte übrigens gar nicht Lehrer werden, sondern Volkswirt. Die Lehrerfahrungen bewogen mich aber dazu, zur Finanzierung meines Studiums weitere Stellvertretungen zu übernehmen. Das Unterrichten gefiel mir. Ich belegte dann die Vertiefung Wirtschaftspädagogik.

Die Notlösung kann also sogar zu neuen, guten Lehrpersonen führen?

Richtig. Damit möchte ich die aktuelle Situation aber keineswegs schönreden.

Früher oder später befasst man sich in der Ausbildung mit dem Lehrplan. Was ist eigentlich dessen Funktion?

Das sind einige. Ich beschränke mich auf drei: Er konkretisiert die Bildungsziele und dient vor allem jenen, die neu im Job sind, als Planungshilfe. Der Lehrplan hilft weiter dabei, den Eltern, der Schülerschaft sowie den abnehmenden Schulen zu zeigen, welche Ziele erreicht werden sollen. Und er dient als Grundlage für Evaluationen, ob diese Ziele erreicht worden sind.

Hat sich das über die Jahre verändert?

Nein. Hingegen weiss man heute besser, wie man gute Lehrpläne erstellt. Lehrpläne müssen inhaltlich auf der Höhe der Zeit sein. Alte Lehrpläne enthielten bloss Stoffziele. Anfang der Siebzigerjahre wurden diese zu Lernzielen weiterentwickelt, die nun reines Wissen mit Denk-, Lernprozessen und Haltungen verknüpfen. Und heutige Lehrpläne basieren zunehmend auf zu erwerbenden Kompetenzen.

«Der Schritt vom Lernziel zum Kompetenzziel gar nicht so gross.»

Dies sorgt jedoch beim Lehrplan 21 der Volksschule und nun beim neuen Rahmenlehrplan für die Gymnasien für heisse Köpfe. Um was geht es?

Dabei ist der Schritt vom Lernziel zum Kompetenzziel gar nicht so gross. Gute Lernziele waren schon wie heutige Kompetenzziele formuliert. Im Kern geht es darum, dass in der Schule nicht einfach Wissen angehäuft wird, sondern auch gelernt wird, wie dieses Wissen verantwortungsvoll angewendet und eigenständig erweitert werden kann.

Das entzweit Expertinnen und Experten?

Der Begriff Kompetenz ist eben nicht gefestigt. Deshalb verstehen nicht alle dasselbe darunter. Teilweise wird von falschen Annahmen ausgegangen. Ein Beispiel: Kompetenzen sind keineswegs inhaltsbeliebig. Der Erwerb von Wissen bleibt zwingend. Sie sind immer mit bestimmten Stoffgebieten verbunden, auf das sie sich beziehen. Ich lerne Sprachen anders als Mathematik. Der Streit wäre mit einer sauberen Definition des Begriffs nicht entstanden. Etwas vereinfacht lautet diese so: Kompetenzen dienen zur Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben und Lebenssituationen. Sie beinhalten miteinander verknüpfte Sach-, Sozial- und Selbstkompetenzen.

Tönt nachvollziehbar.

Nun muss man sich natürlich einig werden, welche Aufgaben junge Leute später bewältigen können müssen. Da liegt eine Ursache der Kritik: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz die OECD, hat sich bei ihrer Formulierung der relevanten Kompetenzen etwas zu stark auf ökonomisch geprägte Lebenssituationen beschränkt. Weiter gab es in Deutschland die Bewegung, die sich auf messbare Bildungsstandards beschränken wollte. Die Befürchtung war, dass die Schweiz in eine ähnliche Richtung geht.

Dass also dann die humanistische, ganzheitliche Bildung zu kurz komme?

Ja. Doch die Sorge beruht auf einem Missverständnis. Im Kompetenzbegriff, den ich vorhin umrissen habe, sind auch viele nur schwer messbare Anteile enthalten. Und diese gehören in einem kompetenzorientierten Lehrplan unbedingt dazu.

Andere befürchten, Schülerinnen und Schüler lernten gar nichts mehr richtig.

Auch sie liegen falsch. Eine Kompetenz ist an konkrete Inhalte gebunden. Wenn es um das Bewältigen bestimmter Aufgaben oder Lebenssituationen geht, sind diese ja nicht beliebig. Es geht immer um konkrete Sachprobleme. Ich muss sorgfältig analysieren, um was es geht und welches Wissen und Können ich dazu benötige. Dazu gehören Grundfertigkeiten. Ohne sie ist es gar nicht möglich, bestimmte Kompetenzen zu erwerben.

Die Auseinandersetzung rief die Politik auf den Plan: Die Entscheidung, was Kinder lernten, dürfe man nicht Fachleuten überlassen. Einverstanden?

Ja. Ein Lehrplan soll im Austausch von Wissenschaft und Öffentlichkeit entstehen. Denn das Menschenbild beziehungsweise was Menschen können müssen, hängt mit Werten zusammen. Hier muss die Gesellschaft mitreden können.

Viele Lehrerinnen und Lehrer dachten sich, die Suppe wird sowieso nicht so heiss wie angerichtet gegessen.

Häufig erreicht die Wissenschaft mit ihrer Sprache auch Lehrpersonen nicht. In einem Gespräch mit einem älteren Lehrerkollegen meinte dieser nach meinen Ausführungen zur Kompetenzorientierung: Das mache ich ja schon. Ich musste ihm zustimmen. Er war einst mein Lehrer. Kompetenzorientierter Unterricht ist gar nicht so weit von dem entfernt, was eine gute Lehrperson sowieso macht. Was qualitativ guter Unterricht ist, hat sich nicht fundamental verändert.

Entscheidend ist also, was im Schulzimmer geschieht?

Einverstanden. Aber was dort geschieht, darf nicht beliebig sein. Damit möglichst viele gut und zeitgemäss unterrichten, braucht es Leitplanken. Der mittlerweile in der Deutschschweiz überall eingeführte Lehrplan 21 gibt die richtigen Anregungen. Er ist allerdings etwas überladen. Es braucht darum im Schulalltag den Mut zur Lücke und nach einer ersten Praxisphase eine sorgfältige Analyse, was zu viel ist.

«Die Gesellschaft muss bei Lehrplänen mitreden können.»

Läuft es beim Rahmenlehrplan für die Gymnasien in eine ähnliche Richtung?

Ich gehe davon aus, dass man aus den Erfahrungen mit dem Lehrplan 21 gelernt hat. Es geht um die Harmonisierung. Heute ist die gymnasiale Matura von Kanton zu Kanton unterschiedlich und damit nicht vergleichbar. Der Rahmenlehrplan soll nun greifbare, aber nicht bis ins letzte Detail reichende Vorgaben machen. Es geht um Mindestanforderungen.

Die Kantone haben aber weiterhin eigene Stundentafeln. Die Latte liegt damit künftig gleich hoch, aber die Trainingszeit variiert. Geht das auf?

Das Argument verstehe ich. Vereinheitlichen ist jedoch politisch nicht machbar.

Der Rahmenlehrplan geht bald in die Vernehmlassung. Werden die Wogen so hochgehen wie beim Lehrplan 21?

Ich bin gespannt. Im Unterschied zum Lehrplan 21 wurde der Rahmenlehrplan aber von Fachlehrpersonen mit Unterstützung von Fachleuten und nicht von der Wissenschaft entwickelt. Trotzdem gab es in einer ersten Konsultation die Kritik, der Vorschlag sei überladen.

Ihr Wunsch für die Vernehmlassung?

Dass die Gesamtsicht nicht verloren geht und man über das eigene Fach hinausschaut. Es geht um den Erwerb der allgemeinen Studierfähigkeit und einer vertieften Gesellschaftsreife mittels Vorbereitung auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft. Dazu braucht es eine breite Allgemeinbildung und nicht nur den engen Blick durch die Fachbrille. Daran soll sich die Reform orientieren.

Hohe Ziele. Gleichzeitig hat das Ansehen des Lehrberufs gelitten. Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer damit umgehen?

Ist der Sonderstatus des einstigen Dorflehrers überhaupt erstrebenswert? Ich ziehe ein realistisches Selbstbild vor, das auf einer Begegnung mit den Mitmenschen auf Augenhöhe basiert. Entscheidend sind die Bereitschaft, sich zu erklären, kritikfähig zu sein, den Blick auf die Erfolge zu richten und für sich die Freude am Unterrichten zu bewahren.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

06.07.2023

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