EDK-PRÄSIDENT IM INTERVIEW

«Ein Land ohne gute Volksschule ist ein verlorenes Land»

Der Walliser Bildungsdirektor Christophe Darbellay setzt sich als neuer EDK-Präsident dafür ein, dass Primarschulkinder weiterhin eine zweite Landessprache lernen. Würde ein Kanton ausscheren, müsste der Bundesrat einschreiten, betont er. Eine gute Volksschule ist für ihn eine Schule, die inklusiv ist – aber nicht à tout prix.

Porträt von Christophe Darbellay
Der Walliser Staatsrat Christophe Darbellay (Mitte) ist seit 2025 Präsident der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK).Fotos: Sedrik Nemeth

BILDUNG SCHWEIZ: Sie sprechen sehr gut deutsch, Ihre Muttersprache ist aber Französisch. Wo haben Sie Deutsch gelernt?

CHRISTOPHE DARBELLAY: In der Schule und danach an der ETH Zürich. Wirklich gelernt habe ich die Sprache mit 20, als ich im Bernbiet auf einem Bauernhof ein sechsmonatiges Praktikum absolvierte. Das veränderte mein Leben. Ich hatte als Unterwalliser plötzlich mit Leuten aus der Deutschschweiz und dem Oberwallis Kontakt.

Die Kenntnisse in einer zweiten Landessprache sind am Ende der Schulzeit dürftig, ergab kürzlich die Überprüfung der Grundkompetenzen durch die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK).

Ich stelle aber fest, dass die zweisprachigen Kantone besser abschneiden. Das ist wahrscheinlich auch eine Frage der Motivation. Ärgerlich finde ich, wenn man in diesem Zusammenhang von Fremdsprachen spricht. Es geht um Landessprachen. Ebenso stört mich, dass man fälschlicherweise von Frühfranzösisch spricht. In der Romandie redet niemand von Frühdeutsch. In einer solchen Bezeichnung schwingen Misstrauen und ein despektierlicher Unterton mit. Das macht mir Sorgen.

In der Ostschweiz findet man es in Ordnung, wenn Leute aus der Romandie und der Deutschschweiz englisch miteinander sprechen. Ist das schlimm?

Ich finde das schlecht und ich glaube auch nicht, dass es funktioniert. Für eine Karriere in der Schweiz muss man eine zweite Landessprache beherrschen. Wir reden nicht von der Chefetage in Banken. Wir reden von der Berufswelt. Oder von einer Ärztin, die im anderen Landesteil praktizieren will. Mit Englisch kommt man da nicht weit.

Zur Person

Seit 2025 ist der Walliser Staatsrat Christophe Darbellay (Mitte) Präsident der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Zuvor war er deren Vizepräsident. Der frühere Nationalrat war Präsident der CVP Schweiz. Der 54-Jährige wohnt in Martigny, ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Der studierte Agrarwissenschaftler leitet seit 2017 das Walliser Departement für Volkswirtschaft und Bildung.

Französisch ist in der Deutschschweiz zum Hassfach verkommen. Warum ist die zweite Landessprache so unattraktiv?

Der Unterricht muss konkreter, ansprechender und lebensnaher gestaltet werden. Lehrerinnen und Lehrer haben sehr viele Freiheiten, nicht alle nutzen sie.

Da schwingt Kritik mit. Sind die Lehrkräfte schuld?

Das wäre zu kurz gegriffen. Aber Kinder wollen Motivation spüren und erfahren, wofür sie etwas lernen sollen. Insgesamt ist der Sprachunterricht besser geworden. Meine Kinder können in der Volksschule zum Teil besser Deutsch als andere im Gymnasium. Natürlich ist nicht alles, was sie sagen oder schreiben, korrekt. Aber sie drücken sich viel spontaner aus.

Sie sagen, die Fähigkeiten seien besser, aber die ÜGK zeigt das Gegenteil. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) nennt als mögliche Probleme grosse Klassen, zu wenig Gruppenunterricht oder zu wenig Lektionen. Andere kritisieren die Methode oder den frühen Beginn. Wie sehen Sie das?

Kleinere Lerngruppen bringen pädagogisch unbestritten Vorteile. Gleichzeitig müssen wir zwischen dem fachlichen Anspruch und der finanziellen Machbarkeit sorgfältig abwägen. Es stimmt: Das Niveau könnte höher sein und dass es Grundkenntnisse braucht, ist unbestritten. Attraktiver wird der Unterricht aber vor allem mit mehr Immersion, also dem Eintauchen in die Sprache beispielsweise mit mehr Sprachaustauschprojekten.

Im «Tages-Anzeiger» wünschten Sie wieder mehr Diktate und Üben. Wieso?

Das eine schliesst das andere nicht aus. Es braucht die Vermittlung und das Üben von Grundkompetenzen und ebenso das praktische Erleben der Sprache.

«In der Verfassung steht, dass der Bundesrat bei einem Scheitern der Harmonisierung intervenieren muss.»

In zwölf Kantonen laufen Bestrebungen zur Abschaffung von Französisch in der Primarschule. Das Parlament von Appenzell Ausserrhoden hat dies bereits beschlossen.

Die Kantonsregierung muss dort nun eine Vorlage erarbeiten, umgesetzt ist das noch lange nicht. In der Bundesverfassung und im Sprachengesetz sind die Bedeutung der Landessprachen festgehalten. Weiter gibt es das Konkordat zur Harmonisierung der obligatorischen Schule und die sprachregionalen Lehrpläne. Über diese Dinge können sich Kantone nicht einfach hinwegsetzen. Es geht um viel mehr als um das Erlernen einer Fremdsprache. Es geht um den nationalen Zusammenhalt.

Leider erfüllt aber nur etwas mehr als die Hälfte am Ende der Schulzeit die Grundkompetenzen. Bildungsdirektor Res Schmid (SVP), ihr Nidwaldner Amtskollege, möchte darum Englisch auf der Primarstufe streichen und dort ganz auf Französisch setzen. Wie stehen Sie dazu?

Der Vorschlag freut mich. Es geht keinesfalls darum, kein Englisch mehr zu lernen, sondern darum, Französisch zu fördern.

Sie unterstützen demnach die Forderung, dass man auf Primarstufe nur noch eine Fremdsprache unterrichtet?

In der Wissenschaft ist man sich einig, dass das parallele Erlernen mehrerer Sprachen kein Problem darstellt.

Dann stehen Sie als EDK-Präsident weiterhin hinter dem 2004 geschlossenen Kompromiss zum Sprachunterricht. Er besagt, dass in der Primarschule mit zwei Fremdsprachen begonnen wird, je nach Kanton aber entweder zuerst mit einer zweiten Landessprache oder zuerst mit Englisch. Kann die EDK dies überhaupt durchsetzen?

In der EDK wird in den kommenden Wochen über die Sprachenstrategie diskutiert. Die Kantone haben sich 2004 darauf geeinigt und die Strategie seither mehrfach bestätigt.

In einem Interview in «Le Temps» sagten Sie, möglicherweise sei der Zeitpunkt für ein Eingreifen des Bundesrats gekommen. Wie meinen Sie das?

Bundesrat Alain Berset vertrat 2016 eine klare Haltung, als im Kanton Thurgau der Ausstieg aus dem Kompromiss zur Diskussion stand. Das trug wesentlich dazu bei, dass der gemeinsame Weg weiterverfolgt wurde. Ich hatte damals auch Kontakte nach Bern und bin überzeugt, dass sich die Position seither nicht verändert hat.

Werden Sie in dieser Angelegenheit vorstellig beim Bundesrat?

Das ist nicht nötig. In der Bundesverfassung steht, dass dieser bei einem Scheitern der Harmonisierung intervenieren muss.

Die EDK braucht also die Drohkulisse des Bundes?

Die EDK ist nicht das Bildungsministerium der Schweiz. Die Bildungshoheit liegt bei den Kantonen. Die EDK evaluiert – beispielsweise mit der ÜGK – und koordiniert zwischen den Kantonen.

Diese fahren auch bei der integrativen Schule unterschiedliche Kurse. Einzelne Kantone setzen wieder auf Förderklassen. Was halten Sie davon?

Mich überzeugt die Walliser Lösung. Bei uns hat sich die schulische Integration bewährt. Es gilt der Grundsatz Integration vor Separation – aber nicht à tout prix. Wir suchen situativ im Sinne des Kindeswohls die bestmögliche Lösung.

«Wir sind möglicherweise bei der Individualisierung der Bedürfnisse zu weit gegangen.»

In Bern wird etwa ein Viertel der Kinder mit Sonderschulstatus integrativ beschult, die anderen separativ. Zusätzlich gibt es Klassen zur besonderen Förderung, früher Kleinklassen genannt. Wie sieht es im Wallis aus?

Im Schuljahr 2024/2025 profitieren 1074 Schülerinnen und Schüler von verstärkten pädagogischen Massnahmen in der obligatorischen Schulzeit. 44 Prozent von ihnen sind in Regelklassen integriert und werden dort von spezialisierten Lehrpersonen und bei Bedarf von einer Schulassistenz begleitet. 18 Prozent besuchen Klassen für Kinder mit Beeinträchtigungen. Bei 38 Prozent ist eine Beschulung in einer spezialisierten Institution erforderlich. Insgesamt absolvieren 39'500 Kinder und Jugendliche die obligatorische Schulzeit.

In Basel und Zürich wurde die Einführung von Förderklassen auch mit der Begründung beschlossen, dass viele Lehrpersonen überlastet seien. Wie stellen Sie sich dazu?

Wir sind möglicherweise bei der Individualisierung der Bedürfnisse zu weit gegangen. Mit zwanzig Kindern in einer Klasse können nicht zehn besondere Bedürfnisse haben. Das System belasten aber nicht Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Es sind solche mit Verhaltensauffälligkeiten.

Die Frage ist, woher diese Auffälligkeit rührt. Ist es vielleicht nicht gerade ein tiefer liegendes Problem, das dazu führt?

Das mag zum Teil zutreffen. Verhaltensauffälligkeiten haben oft komplexe Ursachen. In vielen Fällen steht weniger ein schulisches als ein erzieherisches Defizit im Vordergrund. Die Schule kann hier unterstützend wirken, aber die Hauptverantwortung für die Erziehung liegt bei den Eltern.

Fakt ist, die Schule ist gefordert. Es fehlen Lehrpersonen. Viele sind unvollständig ausgebildet, etliche arbeiten Teilzeit und sind trotzdem überlastet. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?

Die Situation unterscheidet sich von Kanton zu Kanton. Darum braucht es auch unterschiedliche Massnahmen. Eines ist aber klar: Dem Lehrpersonenmangel darf nicht mit einer Senkung der Anforderungen in der Ausbildung begegnet werden. Und es braucht eine Stärkung der gesellschaftlichen Stellung des Berufs. Bei uns im Wallis ist das Vertrauen in die Schule gross. Die Lehrpersonen verdienen das.

«Wir brauchen engagierte Lehrpersonen.»

Warum ist die Volksschule und deren Harmonisierung wichtig?

Eine qualitativ gute Volksschule stärkt die Chancengleichheit. Bildung ist unsere Zukunft. Ein Land ohne gute obligatorische Volksschule ist ein verlorenes Land. In einem kleinen, stark vernetzten Land braucht es eine gemeinsame Ausrichtung in der obligatorischen Schulbildung. Nur mit klaren gemeinsamen Zielen und Standards können wir sicherstellen, dass jedes Kind, unabhängig von Wohnort und Herkunft, faire Zukunftsperspektiven erhält.

Was erwarten Sie von den Kantonen?

Dass sie zur Volksschule und zur dualen Berufsbildung Sorge tragen. Sie sollen der Bildung oberste Priorität einräumen. Bildung darf auch in Zeiten gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen nicht dem Spardruck zum Opfer fallen.

Was erwarten Sie von Berufsverbänden als Vertreter der Lehrpersonen?

Einen offenen Dialog. Entscheidend ist, dass konkrete und umsetzbare Vorschläge zur Weiterentwicklung des Bildungswesens eingebracht werden, nicht nur Kritik. Wir brauchen engagierte Lehrpersonen mit der Überzeugung, dass ihr Einsatz einen entscheidenden Beitrag für unsere Zukunft leistet.

Was erwarten Sie als Vater Ihrer Kinder von Behörden und Institutionen?

Ich wünsche mir als Vater, dass sich alle Beteiligten gemeinsam für unsere Kinder einsetzen und ihnen die bestmögliche Ausbildung ermöglichen. Das gilt für alle, auch für solche mit einer Behinderung. Ich habe persönlich beides erlebt. Darum kenne ich sowohl den Leidensweg bei schwierigen Voraussetzungen wie auch die Situation, wenn alles rund läuft. Nicht jedes Kind wird einen Nobelpreis gewinnen, aber jedes soll seine Chance erhalten.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

03.07.2025

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