SCHULBEURTEILUNG

«Die Stimme der Schülerinnen und Schüler ist wichtig für uns»

Andreas Brunner inspiziert regelmässig Schulen. Der Leiter der Zürcher Fachstelle für Schulbeurteilung erklärt im Interview, worauf er Wert legt und was sich seit der Einführung von Schulleitungen verändert hat.

Der Leiter der Fachstelle für Schulbeurteilung macht immer noch Schulbesuche. Fotos: Eleni Kougionis

Bildung Schweiz: Früher sorgte das plötzliche Auftauchen des Schulinspektors für Nervosität im Schulhaus. Wie erleben Sie das heute?

ANDREAS BRUNNER: Der Prozess ist partizipativer geworden. In Zürich arbeiten wir mit den Schulen gemeinsam in einem langfristigen Prozess, der neun Monate dauert. Wir tauchen dann nicht plötzlich als Überfallskommando auf. Unsere Besuche sind lange vorher angekündigt. Schulleitung und Lehrpersonen wissen, wann wir kommen und auf was wir achten werden.

Sind Lehrpersonen immer noch nervös oder besonders gut vorbereitet, wenn jemand von Ihnen vorbeikommt?

Ein gewisses Lampenfieber ist manchmal vielleicht da. Das kann ich gut nachvollziehen. Alle wollen einen guten Eindruck machen. Bei vielen Lehrpersonen habe ich den Eindruck, dass sie sehr sicher sind und wie gewohnt unterrichten.

Wie merken Sie das?

Das spürt man in der Klasse. Die weiss dann auch, wie es läuft. Wenn die Lehrperson plötzlich neue Methoden einsetzt, merkt man den Schülerinnen und Schülern die Irritation an. In den meisten Fällen wird sicher bewusst eine gute Lektion gehalten. Eine Show wird uns jedoch in der Regel nicht geboten.

Ist Ihr Besuch nicht auch eine Prüfungssituation für die Lehrperson?

Wir beurteilen grundsätzlich die Schule als Ganzes, nicht einzelne Lehrpersonen. Es ist wichtig, dass die Lehrpersonen das wissen. Uns interessiert das Gesamtbild des Unterrichts an der Schule.

«Wir sehen allerdings, dass die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler sehr vielfältig geworden sind. Dazu kommen hohe Erwartungen der Eltern an die Schule.»

Seit der Coronapandemie hört man wieder mehr von Eltern, die ihre Kinder selbst unterrichten wollen. Hat die Volksschule ein Qualitätsproblem?

Ein Problem definitiv nicht. Wir sehen allerdings, dass die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler sehr vielfältig geworden sind. Dazu kommen hohe Erwartungen der Eltern an die Schule. Daraus kann das Gefühl entstehen, dass manche Kinder nicht genügend gefördert werden.

Sind Homeschooling und Privatschulen eine Konkurrenz für die Volksschule?

Es gibt natürlich Eltern, die nach Alternativen zur Volksschule suchen. Verglichen mit anderen Ländern hat die Schweiz da jedoch eine sehr tiefe Quote. Während der Pandemie realisierten ausserdem viele, welch immense Arbeit die Schulen leisten. Ich behaupte, der Anteil von Eltern, deren Hochachtung vor Lehrpersonen gestiegen ist, ist deutlich höher als jener der Eltern, die selbst unterrichten wollen.

Wie lässt sich die Qualität einer Schule überhaupt beurteilen?

Wir untersuchen zwei Ebenen. Eine ist die Schule als Organisation mit ihrer Kultur und der Zusammenarbeit der verschiedenen Teams. Die andere Ebene ist der eigentliche Unterricht. Da achten wir auf die Gestaltung der Lektionen und wie gut dabei individualisiert wird, um den verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden.

Sie befragen dafür auch die Schülerinnen und Schüler. Machen diese gerne mit?

Ja, denn sie fühlen sich ernst genommen. Ihre Stimme ist wichtig für unsere Arbeit. Denn letztlich geht es um sie. Die Schule prägt ihre Welt über viele Jahre.

Wie aussagekräftig ist die Einschätzung der Lernenden?

Sie sind mit ihrer Perspektive Expertinnen und Experten für den Alltag einer Schule. Schülerinnen und Schüler können die Beurteilungspraxis verschiedener Lehrpersonen direkt vergleichen. Zum Beispiel, wenn jemand eine gute Heftführung bei der Benotung berücksichtigt und andere nicht. Sie sind auch sehr ehrlich, wenn ihnen etwas gefällt oder wenn etwas stört.

Sie sehen als Vorstandsmitglied einer interkantonalen Arbeitsgemeinschaft auch, wie verschieden die Kantone vorgehen. Gibt es eine «best practice»?

Der direkte Vergleich ist schwierig. Es hängt immer von den Zielen des Kantons ab. In Zürich stellen wir den Schulen eine fachliche Aussensicht zur Verfügung. Dabei haben wir keine Verordnungsmacht. Die Gestaltungsfreiheit bleibt bei den Gemeinden und Schulen. Anderswo ist die Lenkung enger und die Leine kürzer. Da bestimmt die Schulaufsicht allenfalls nötige Massnahmen, für die sie aber auch finanzielle Mittel sprechen kann.

Welches Vorgehen finden Sie besser?

Als Vertreter des Zürcher Modells bin ich etwas befangen. Unsere Begleitung ist zwar nicht so eng. Gut daran finde ich aber, dass wir Schulen damit Gestaltungsfreiheit und eine gewisse Autonomie zugestehen. Natürlich hat der Kanton im Gegenzug auch Erwartungen an die Qualität. Das Modell funktioniert gut – nicht zuletzt auch, weil die Schulleitungen jährlich besser werden.

Als die Schulleitungen eingeführt wurden, war es jedoch umstritten.

Es war ein Lernprozess für die Schulleitungen, aber auch für uns. Unsere Fachstelle wurde 2006 zeitgleich eingeführt. Wir haben alle in dieser Zeit eine Entwicklung durchlaufen und dazu-gelernt.

Woran machen Sie das fest?

Es gibt mehr Routine. Heute erleben viele Schulleitungen unseren dritten oder vierten Besuch an ihrer Schule. Sie berücksichtigen unsere Arbeit auch in ihrer Entwicklungsplanung und reagieren auf unsere Beurteilung. So ein Zusammenspiel ist der Idealfall.

Und wenn es nicht ideal läuft?

Man muss fairerweise sagen, dass es auch Schulen mit einer anderen Realität gibt. Es gibt Fälle, wo innert kürzester Zeit mehrere Schulleitungen kommen und wieder gehen. So etwas erschwert die Zusammenarbeit mit uns. In solchen Fällen hilft es, wenn zumindest das Team die Arbeit weiterträgt oder die Schulpflege als Behörde für Kontinuität sorgt.

Klingt, als ob Schulqualität mit der Leitung steht und fällt.

Ja. Die Schulleitung ist eine Schlüsselfunktion. Wir achten darauf, wie ihr die Mischung aus organisatorischer Arbeit und pädagogischer Vision gelingt. Dabei ist für uns wichtig, ob das Schulteam diese Ideen ebenfalls vertritt und umsetzt.

Was können einzelne Lehrerinnen und Lehrer dazu beitragen?

Sehr viel. Lehrpersonen spielen als Teil des Teams eine grosse Rolle für die Schulqualität. Ihre Zusammenarbeit braucht eine Offenheit für andere Menschen sowie für deren Stärken und Ideen. In einem guten Team treffen Menschen mit unterschiedlichen Talenten und Erfahrungen aufeinander. Man unterstützt sich gegenseitig und lernt voneinander. Lehrpersonen bilden das Fundament einer guten Schule.

Offen für andere Ideen und Lösungen zu sein, ist nicht immer einfach.

Wichtig ist die Balance zwischen Routinen und dem Ausprobieren von neuen Lösungen. Offenheit heisst nicht, dass man mit jeder neuen Idee gleich in Hektik verfallen und alles ändern muss.

«Schulen mit Pandemie, Krieg und Fachpersonenmangel seit bald drei Jahren im Ausnahmezustand.»

Sie beschäftigen sich schon lange mit Schule und Qualitätsmanagement. Welche Veränderungen sind Ihnen in den vergangenen Jahren aufgefallen?

Wir stellen eine zunehmende Professionalisierung der Schulleitungen fest. Das wirkt sich positiv auf die Schulteams aus, die länger zusammenbleiben und somit Kontinuität schaffen. Die Schulen haben ausserdem in den vergangenen Jahren ein gutes Bewusstsein für Schulkultur entwickelt. Gemeinsame Anlässe spielen dabei eine wichtige Rolle. Man spricht zudem heute vielerorts offen über die Werte, die man als Gemeinschaft pflegen will.

Es gibt trotzdem Stimmen aus dem schulischen Umfeld, die sich um die Schulqualität sorgen.

Wir sehen durchaus Dinge, die wir kritisch einschätzen. Zum Beispiel, wenn in den Klassen digitale Mittel zwar eingesetzt werden, aber dafür an der Schule noch kein einheitliches pädagogisches Konzept besteht. Zudem sind die Schulen mit Pandemie, Krieg und Fachpersonenmangel seit bald drei Jahren im Ausnahmezustand. Insgesamt beeindruckt uns jedoch der grosse Effort, den alle in dieser Zeit geleistet haben und immer noch leisten. Wir treffen nämlich viele gute Beispiele an, wo besonders in den Bereichen Unterricht, Schulkultur und Führung viel Gutes geleistet wird.

Junge Lehrerinnen und Lehrer wollen einen guten Job machen. Manche scheitern jedoch an ihren hohen Erwartungen. Was raten Sie?

Gut ist gut genug. Das klingt zwar banal, aber man glaubt die Botschaft eher, wenn man sie von anderen hört. Ich sehe das bei meiner Tochter, die an der PH studiert und derzeit erste Stellvertretungen übernimmt. Ohne Erfahrung ist es schwierig, die eigene Leistung einzuordnen. Darum hilft beim Einstieg in den Beruf besonders der Austausch mit anderen Fachleuten.

 

ZUR PERSON
Andreas Brunner ist Erziehungswissenschaftler und Psychologe. Er leitet seit 2015 die Fachstelle für Schulbeurteilung des Kantons Zürich – eine der grössten Evaluationsstellen im Schweizer Bildungsbereich. Ausserdem ist er Co-Präsident der Arbeitsgemeinschaft für die externe Evaluation von Schulen. Seit 2020 ist er Mitglied der Lehrgangsleitung Schulqualität an der PH Zürich. Er lebt mit seiner Familie in Bern.

Autor
Interview: Patricia Dickson

Datum

03.01.2023

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