Buchbesprechung

Der historische Rahmen zur grellen Debatte über Rassismus und Kolonialismus

Bilderstürmer, Leugner der eigenen Geschichte – Schuldzuweisungen sind in der Diskussion über Rassismus üblich. Der Historiker Georg Kreis ermöglicht mit seinem interessanten und gut lesbaren Forschungsbericht «Blicke auf die koloniale Schweiz» eine Einordnung.

Ein Historiker zeigt in einem Forschungsbericht auf, was Schweizer Geschichte mit Kolonialismus und Rassismus zu tun hat. Bild: iStock/THEPALMER
Ein Historiker zeigt in einem Forschungsbericht auf, was Schweizer Geschichte mit Kolonialismus und Rassismus zu tun hat. Bild: iStock/THEPALMER

In Bern heisst die frühere Mohrenzunft nun «Zunft zur Schneidern» und in Zürich wird der Kampf um die Beschriftung von Häusern juristisch ausgefochten. Die vehement geführten Debatten darum herum schlugen sich in zahlreichen Medienartikeln nieder.

Der Historiker Georg Kreis nimmt die Auseinandersetzungen zum Anlass, tiefer zu schürfen. Sein 2023 erschienener Forschungsbericht «Blicke auf die koloniale Schweiz» stellt die mittlerweile zahlreichen Artefakte, Episoden und Forschungsarbeiten zusammen und in einen breiteren Zusammenhang. Er zeigt auf, wo diese Geschichte etwas mit Rassismus zu tun hat.

Autor mit grosser Kenntnis

Kreis ist, dies wird nach der Lektüre des Buches klar, auch die richtige Person für diese Aufgabe. Er war Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und lehrte als Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Universität Basel. Mit diesem Hintergrund wendet er sich dem Thema sowohl mit Engagement als auch mit der nötigen Sorgfalt zu.

Entstanden ist ein Buch, das bis in die Anfänge des europäischen Imperialismus zurück Schweizer Bezüge herstellt und deren Aufarbeitung seit dem Ende der Kolonialherrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts beleuchtet. Der Bericht bettet damit den zuweilen hitzig geführten Streit in einen historischen Kontext ein. Dank der vielen Quellenangaben, auch zu Medienberichten, lässt sich dieser selbst nachvollziehen. Das Buch ist zwar nüchtern, aber nicht trocken verfasst. Beides macht es zu einer guten Vorbereitungslektüre für interessierte Lehrerinnen und Lehrer und zu einer Fundgrube für den Unterricht.

Sutters Fall vom Sockel

Gut dokumentiert ist zum Beispiel die Neubewertung von Johann August Sutter: Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde er als erfolgreicher Pionier verklärt, der im amerikanischen Sacramento-Tal Neu-Helvetien gegründet hatte. Die Baselbieter Gemeinde Rünenberg widmete ihm 1953 sogar ein Denkmal. Erst nach und nach wuchs das Bewusstsein, dass er als Sklavenhalter brutal gegen die indigene Bevölkerung vorgegangen war: Das Denkmal wurde Ziel eines Farbanschlags, der allerdings nicht die Zerstörung beabsichtigte, sondern zum Hinschauen zwang: Basler Jungsozialisten bedeckten das Denkmal mit einem rot befleckten Tuch. Die Medien sprangen auf.

Sutter ist ein Vertreter des Siedlungskolonialismus. Kreis widmet auch der Rolle der Wissenschaft, des (Sklaven-)Handels, der Mission und des Staates jeweils eigene Kapitel. Die schwierigen Anfänge von Entwicklungshilfe werden dabei nicht ausgespart.

Was Geschichte lehren kann

Am Ende der Lektüre hat man erfahren: Was historisch geschehen ist, kann man nicht ungeschehen machen. Wer wirklich verstehen will, muss Vorkommnisse aus der Zeit heraus verstehen. Das ist aber noch lange kein Grund, um eine problematische Vergangenheit auszublenden. Der Blick auf die eigene Geschichte, in diesem Fall auf die koloniale Schweiz, ist oft getrübt, verzerrt oder manchmal sogar verklärt, wie etwa in der Welt der Schweizer Comicfigur Globi.

Kreis hält aber auch jenen den Spiegel vor, die mit ihrem Säuberungseifer übers Ziel hinausschiessen. Eine Aufarbeitung braucht viel mehr eine aktive Auseinandersetzung. Weder Verdrängen oder Beschönigen noch Schuldzuweisungen und Bilderstürme sind besonders hilfreich, um aus der Geschichte für die Gegenwart lernen zu können.

Ein im Buch aufgegriffener Appell der Historikerin Rachel Huber zum Streit um das Denkmal des gefallenen Helden Johann August Sutter illustriert dies: Man möge es ergänzen, verzerren, hinlegen oder es auf den Kopf stellen. «Aber (es) entfernen, wäre nicht zielführend.» Denn das würde bedeuten: «Man macht einen Teil der Geschichte unsichtbar.» Tatsächlich steht das Denkmal heute noch, jedoch ergänzt um einen Stein, auf dem auch die Kehrseite der Geschichte nachzulesen ist.

Die bis vor Kurzem sogar offiziell vertretene Sichtweise, die Schweiz habe nie eigene Kolonien besessen und darum auch keine koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, entlarvt das Buch als Ausrede.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

19.10.2023

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