In meinem ersten Schulzeugnis schrieb meine Lehrerin Frau Krieg in feinster Schnürlischrift: «Christa ist ein strahlendes, liebes Kind. Sie arbeitet mündlich und schriftlich gut mit. Passiert ihr einmal ein Fehler, oder versteht sie etwas nicht aufs erste Mal, so gerät sie sofort in Panik! Sie muss lernen, Fehlern gegenüber nicht so empfindlich zu reagieren.»
Meine Diktate waren damals und all die Folgejahre mit Fehlern übersät und erbarmungslos mit Rotstift markiert. Es folgten Dekaden an Übungseinheiten und Strafdiktaten. Frau Krieg hatte Recht: Mich beschleicht noch heute beim Wort «Diktat» ein Gefühl von Panik und Hilflosigkeit.
Die angepriesene Fehlerkultur klingt für viele Schülerinnen und Schüler dennoch wie eine grosse Lüge.
Fehler und der Ernst des Lebens
Ich erhielt mein erstes Zeugnis Mitte der 1980er-Jahre. Positive Fehlerkultur und damit ein wertschätzender und transparenter Umgang mit Fehlern waren damals nicht gängige Praxis. Heute findet sich der Begriff flächendeckend in allen Lehrplänen und Schulstrategien: Fehler sind hilfreich. Die von Pädagoginnen und Pädagogen angepriesene Fehlerkultur klingt für viele Schülerinnen und Schüler dennoch wie eine grosse Lüge. Mit dem ersten Schultag beginnt der Ernst des Lebens und jedes Kind weiss: Gut ist, wer keine Fehler macht. Später wird schnell klar, dass schlechte Noten, zusätzliche Hausaufgaben, häufige Elterngespräche und beschränkte Zukunftsaussichten mit den eigenen Fehlern und Fehlentscheidungen eng zusammenhängen.
Fehler kratzen am Selbstbewusstsein
«Fehler» bleibt ein schlechtes Wort, auch wenn man es richtig schreibt. Niemand bekommt eine Lehrstelle oder schafft es ans Gymnasium, weil er so gut Fehler macht. Das Fehlerrisiko hält Lernende davon ab, sich überhaupt auf eine Herausforderung einzulassen. Denn Fehler sind ein Anzeichen von Schwäche. Sie stellen das eigene Selbstbewusstsein infrage. «Das Individuum, welches gerne Unrecht hat und falsch liegt, gibt es kaum. Und kaum jemand steckt seine Energie in Aktivitäten, die sein eigenes Versagen fördern», schreibt Bildungsexperte und Autor Michael B. Horn in seinem neusten Buch «From reopen to reinvent. (RE)Creating school for Every Child».
Wo Prüfungsmechanismen dominieren
Wer den Begriff «Prüfungsangst» googelt, kommt auf rund 1,3 Millionen Treffer in 0,39 Sekunden. Wie tief diese Angst in Lernenden sitzt, zeigt auch eine PISA-Studie zum Wohlbefinden. 2015 wurden Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Studie zum Thema Prüfungsangst befragt. Dabei gaben ein Drittel aller Schweizer Lernenden an, trotz guter Vorbereitung vor einer Prüfung nervös zu sein. Zu den nicht oder weniger gut vorbereiteten Kindern gibt es keine Zahlen. Sie lassen sich nur erahnen.
Die Gefühlslage der heutigen Schülerschaft gegenüber Fehlern und Scheitern scheint sich in vielen Fällen kaum von den Erfahrungen ihrer Eltern und Grosseltern zu unterscheiden. Zwar gibt es keine Stockschläge und Kopfnüsse für fehlendes Wissen, doch im Umgang mit Scheitern und Fehlern herrschen immer noch oft Hilflosigkeit und Panik – trotz positiver Fehlerkultur.
In einer ausgeprägten Leistungsgesellschaft bleibt das Kultivieren von Fehlern ein Widerspruch.
«Noten, um Leistungen zu beurteilen, und die gepriesene Fehlerkultur sind nicht kompatibel», sagt Martin Hafen, Dozent am Institut Sozialmanagement der Hochschule Luzern. Er konkretisiert: «Solange Schule und Lernen von Prüfungsmechanismen dominiert werden und ‹richtig und falsch› als massgebende Leistungsnachweise dienen, ist Fehlerkultur nichts als ein Lippenbekenntnis.» In einer ausgeprägten Leistungsgesellschaft bleibt das Kultivieren von Fehlern ein Widerspruch. Selektion und Leistung fordern und fördern das Bild einer fehlerfreien Performance. Im Fokus steht die Fehlervermeidung; Lernen rückt in den Hintergrund.
Wer kennt nicht die Situation, eine gestellte Frage nicht zu beantworten, aus Angst, die Antwort sei falsch? Und wer hat das eigene Falschliegen nicht schon bewusst ignoriert, verschwiegen, verdeckt oder gar verleugnet? Das mulmige Gefühl für Nicht-Wissen belächelt, blossgestellt oder gar stigmatisiert zu werden, ist ein stetiger Begleiter: zuerst beim Diktat in der Primarschule, später beim Beförderungsgespräch mit den Vorgesetzten.