Besser lernen
«Das Gehirn sitzt nicht auf einem Stecken»
Mit einem guten Lehrmittel verhält es sich ähnlich wie mit einer guten Lehrperson: Beide sind in der Lage, das Lernen zu fördern. Dazu braucht es Emotionen und Geschichten, betont Neurowissenschaftlerin Barbara Studer im Interview.
BILDUNG SCHWEIZ: Sie sind Hirnforscherin. Lüften Sie für uns das Geheimnis des Lernens?
BARBARA STUDER: Wir lernen nicht, weil uns etwas zum Lernen vorgesetzt wird. Es ist umgekehrt: Wir lernen, weil wir uns dazu entscheiden und den Sinn darin erkennen. Lernen ist ein aktiver, multisensorischer Prozess und kein passiver Vorgang.
Welche Rollen spielen dabei Lehrmittel?
Lehrmittel können diesen Prozess anregen und fördern – oder erschweren.
Was macht ein gutes Lehrmittel aus?
Eigentlich ist es ähnlich wie bei Lehrpersonen. Aus der Forschung ist bekannt, dass der Einfluss einer Lehrperson auf die Lernbegeisterung für ein Thema oder ein Fach bis 70 Prozent ausmachen kann. Das geschieht auch über Emotionen, Erlebnisse und persönliche Geschichten.
Kann ein Lehrmittel das?
Ein Lehrmittel hat weniger Möglichkeiten. Aber es kann ebenfalls positive Emotionen fördern. Das geschieht etwa, wenn es Kinder mit Themen abholt, die sie inte-ressieren oder beschäftigen. Es gelingt ihm auch, wenn es mehrere Sinne anspricht und Beispiele enthält. Interaktive Formen helfen auf jeden Fall. Denn unser Gehirn liebt «Action» und Geschichten!
Zur Person
Barbara Studer ist Neurowissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Universität Bern. Zudem ist sie Co-Gründerin von hirncoach.ch mit ganzheitlichen Programmen zur Förderung der mentalen Fitness und Gesundheit. Hirncoach bietet auch Angebote für Schulen für das Lernen und die psychische Gesundheit (hirncoach.ch/school). Studer ist verheiratet, Mutter dreier Kinder und in Lenzburg (AG) zu Hause.
Wann ist ein Lehrmittel schlecht?
Wenn es zu linear aufgebaut ist und zu viel auf einmal vermittelt. Wenn es wenig Kontrast und Überraschung bietet.
Welches Lehrmittel aus Ihrer Schulzeit ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
Ein Englischbuch. Darin gefielen mir die Comics und die lustigen Stories. Humor ist unglaublich kraftvoll. Es ist deshalb ein schlauer Schachzug, mehr Humor in Lehrmittel einzubringen. Damit wird es nicht etwa unseriöser. Im Gegenteil: Unser Gehirn nimmt etwas ernster, wenn es humorvoll daherkommt.
Für unser Gehirn ist Üben sehr wichtig. Üben ermöglicht Lernen erst. Beim Lernen baut das Gehirn Verbindungen auf und stärkt bestehende.
Man hört etwa die Kritik, neue Lehrmittel enthielten zu wenig Übungen. Wie wichtig ist Üben?
Für unser Gehirn ist Üben sehr wichtig. Üben ermöglicht Lernen erst. Beim Lernen baut das Gehirn Verbindungen auf und stärkt bestehende. Jeder Impuls verändert diese und die neuronale Informationsübertragung. Bei wiederholter Anregung vertiefen sich die Gedächtnisspuren. Wird zudem kontextuell gelernt, entsteht ein erweitertes Netzwerk. Solches Wissen geht weniger vergessen.
Das tönt nun wie ein Widerspruch: Einerseits sind Sensation und Abwechslung nötig und anderseits das Üben.
Das ist nur scheinbar widersprüchlich. Soll ein neuronales Netzwerk ausgebaut werden, braucht es Neugier, emotionale Verstärkung und dann aktives und variantenreiches Üben – am besten mit Beispielen, Mindmaps und Geschichten.
Was empfehlen Sie Lehrpersonen für einen Umgang mit Lehrmitteln?
Ich plädiere für einen freiheitlichen Umgang. Es ist besser, einmal etwas wegzulassen und dafür dort, wo Interesse sichtbar ist, mehr zu investieren. Denn das Interesse ist das grösste Potenzial. Wer sich interessiert, ist empfänglich. Interesse zu ignorieren, weil gerade etwas anderes auf dem Programm steht, ist ein riesiger Verlust. Ein Lehrmittel soll ein Werkzeug, eine Ideenpalette sein und keine Liste, die es abzuarbeiten gilt.
Abnehmende Lehrpersonen müssen aber auf einem bestimmten Wissensstand aufbauen können.
Ich möchte Mut machen, Lernenden etwas mehr Priorität als Reglementen einzuräumen. Solange eine Klasse motiviert und mit Freude am Lernen ist, hat die Lehrperson alles richtig gemacht. Aber ich sehe ein, dass in der Schulrealität ein Mittelweg unumgänglich ist.
Um eine Sprache zu lernen, sollte das Gehirn möglichst vielseitig mit Sprache konfrontiert respektive stimuliert werden.
Manchmal ist ein neues Lehrmittel eine kleine Revolution: Mit dem Vorverlegen des Französischunterrichts wurde in einigen Kantonen «Milles Feuilles» eingeführt. Es setzt auf ein Sprachbad statt auf Vokabeln-Büffeln. Sinnvoll?
Ich kenne das Lehrmittel persönlich nicht. Aber grundsätzlich tönt das gut. Um eine Sprache zu lernen, sollte das Gehirn möglichst vielseitig mit Sprache konfrontiert respektive stimuliert werden. Motivierend wirkt, was die Selbstwirksamkeit fördert.
Das Konzept des Sprachbads ist aber nie ganz im Schulzimmer angekommen. Woran mag das liegen?
Wenn es Lehrpersonen überfordert oder Kinder den Anschluss verlieren, entsteht natürlich Frust statt Motivation. Die Idee des Lehrmittels ist gut, die Umsetzung davon wohl überfordernd.
Ist es richtig, so früh mit dem Lernen von Fremdsprachen zu beginnen?
Eigentlich schon. Bis ungefähr zwölfjährig sind Kinder besonders aufnahmefähig für Sprachen. Allerdings nur, wenn Motivation vorhanden ist und nicht das Gefühl dominiert, ‹nun muss ich auch das noch machen›. Darum sollte die Faszination an anderen Kulturen zusammen mit der zu lernenden Sprache vermittelt werden.
Eventuell reichen zwei, drei Wochenlektionen für ein Sprachbad, also ein Lernen aus dem Erlebnis heraus, nicht aus?
Es braucht eine gewisse Intensität der Eindrücke, damit diese Aufnahmefähigkeit zum Tragen kommt. Am besten ist es, wenn die Fremdsprache in den Alltag hineinspielt und auch beiläufige Lern-erlebnisse möglich sind.
«Hormone wirken wie ‹Booster› oder Dünger. Lernen macht dann glücklich.»
Fazit: Das Konzept würde passen, wenn genügend Zeit vorhanden wäre. Was ist wichtiger, das Vermitteln von Stoff oder das Vermitteln von Lernstrategien?
Beides ist wichtig. Doch das zweite kommt oft viel zu kurz. Da sollten Lehrpersonen besser ausgebildet werden: Neben Lernstrategien sind auch das Wissen über Motivation und Emotionen wichtig. Lernen ohne Emotionen ist nicht möglich. Bei jedem Lernprozess reagiert im Gehirn die Amygdala, auch als Angst- und Lustzentrum bekannt. Je mehr positive Emotionen oder soziale Interaktionen mit dem Lernen verbunden sind, desto mehr Hormone werden ausgelöst. Diese wirken wie ‹Booster› oder Dünger für den Prozess. Lernen macht dann glücklich.
Viele Kinder erleben dieses Glück, andere haben einen «Knopf». Was raten Sie bei Lernblockaden?
Das Problem ist sicher nicht, dass solche Kinder schlecht lernen können. Die Offenheit zum Lernen ist jedem Menschen gegeben. Das Problem ist die Passung: Die Form und das Tempo, wie solche Kinder lernen müssen, entspricht ihnen nicht. Dann löst die Amygdala statt Begeisterung negative Emotionen und Angst aus.
Und Lernen wird negativ?
Es wird eine Bedrohung. Das ist schlimm und dürfte an Schulen nicht passieren. Versagensängste können ein Leben prägen.
Aber Lernen ist nicht immer lustvoll. Es bedeutet doch auch Arbeit?
Wer weiss, warum etwas gelernt werden soll, lernt lieber. Ich finde, da gibt es gar keinen Widerspruch. Logisch gehört Anstrengung dazu. Statt auf diese können wir aber auf Wachstum fokussieren. Das Glücksgefühl stellt sich danach ein, wenn man sieht, dass man weitergekommen ist.
Wer das Lernen als Drill versteht, hat etwas falsch verstanden?
Falsch ist insbesondere die Vorstellung, Lernen sei eine Leistung, die bewertet werden muss. Viele können damit umgehen, andere führt es in die Sackgasse.
Lehrpersonen müssen aber beurteilen, bewerten und Rückmeldungen geben.
Im Zentrum muss die individuelle Rückmeldung stehen und nicht der Vergleich.
Etliche Schulen verzichten während des Semesters auf Noten. Noten gibt’s dann im Zeugnis.
Das ist besser, als jede Leistung zu bewerten. Aber letztlich kommt es auf das Verhalten der Lehrperson an. Wenn das Zeugnis wie ein Damoklesschwert über dem Unterricht schwebt, ändert sich nichts. Wichtig ist für die Kinder, dass sie die Gewissheit haben, dass die Lehrperson sie auf ihrem individuellen Weg unterstützt.
«Texte laut zu lesen, hat auf das Lernen den vierfachen Effekt, als ihn stumm zu lesen.»
Schreiben von Hand regt das Gehirn stärker an als das Schreiben auf einer Tastatur, bestätigte kürzlich eine Studie. Was bedeutet das für das Lernen?
Dass man zu Stift und Papier greifen soll. Das führt zu mehr Sinneseindrücken und erleichtert das Verstehen neuer Zusammenhänge. Dasselbe gilt für das Lesen: Texte laut zu lesen, hat auf das Lernen den vierfachen Effekt, als ihn stumm zu lesen. Je mehr Hirnareale in eine Aktivität involviert sind, desto besser. Darum gehören Reden, Schreiben, Malen und am besten auch Tanzen in den Unterricht. Lernen geschieht nicht im Kopf, sondern im ganzen Körper. Das Gehirn sitzt nicht auf einem Stecken.
Sie sind Mutter schulpflichtiger Kinder. Was wünschen Sie sich von der Schule?
Ich bin enorm dankbar für unsere Schule. Einen Wunsch habe ich dennoch. Ich kann ihn mit einem kürzlichen Erlebnis illustrieren: Meine Tochter fand in einem Test einen anderen Lösungsweg als den vorgesehenen und erhielt Abzug. Das fand ich schlimm. Ich sagte das der Lehrerin und sie verstand meinen Einwand. Was ich damit sagen will: Jedes Kind ist kreativ und motiviert zum Lernen. Das darf im Verlauf der Schulzeit nicht kaputtgehen.
Autor
Christoph Aebischer
Datum
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