Umfrage bei Verlagen

Das beste Lehrmittel ist hybrid

Noch vor wenigen Jahren produzierten Lehrmittelverlage fast nur gedruckte Bücher. Heute sind es meist multimediale Lernmedien. Die Nachfrage nach komplett digitalen Angeboten ist heute jedoch noch überschaubar.

Ein Regal mit Schulbüchern, die mehrheitlich blau gefärbt sind.
Ausschliesslich gedruckte Lehrmittel ohne digitale Ergänzungen werden wohl weiter zurückgehen, aber auf allen Schulstufen wichtig bleiben. Foto: Claudia Baumberger

«Digitale Lehrmittel noch wenig verbreitet» – so lautete eine Schlagzeile in der «Aargauer Zeitung» vor nicht einmal sechs Jahren. Die hohen Entwicklungskosten und die fehlende Infrastruktur bremsten die Digitalisierung, war das Fazit der Recherche. Und heute? Heute erscheinen kaum mehr neue Lehrmittel, die nur gedruckt sind. Eine Sammlung von Links oder ein Dossier mit ergänzenden Texten und Bildern, die man weiterverwenden kann – digitale Zugaben sind fast immer dabei.

Ein Beispiel dafür ist das hybride Lehrmittel St. Gallerland. Es ist vor über 50 Jahren erstmals erschienen und wird in den Ostschweizer Primarschulen in «Natur, Mensch, Gesellschaft» eingesetzt. Seit einigen Monaten liegt es gänzlich neu überarbeitet vor. Das textlastige Buch habe nicht mehr in einen modernen, kompetenzorientierten Unterricht gepasst, sagt Helene Mühlestein, Professorin an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Jetzt werden die Inhalte gedruckt und multimedial vermittelt – in Videos, Bildern, Audiodateien oder Chatbots.

«Mit einer Kombination von verschiedenen Medienformaten erreicht man Kinder besser.»

«Mit einer Kombination von verschiedenen Medienformaten erreicht man die Kinder besser», findet Kornelia Hasselbach, Projektleiterin Lehrmittelverlag St. Gallen. Zudem passe das Haptische besser zur Heimatkunde. So hat das dritte Heft «St. Gallen und seine Wirtschaft» stimmig zur St. Galler Stickerei ein Buchzeichen aus Spitze. «Digital geht das nicht.»

Digitale Medien sind kein Kassenschlager

Beides also, digital und analog: Gut fünf Jahre nach dem Bericht in der «Aargauer Zeitung» haben sich die Nebel gelichtet. Raphael Bieri ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interkantonalen Lehrmittelzentrale (ilz), die 2018 den Bericht «Lehrmittel in einer digitalen Welt» publizierte. «Damals hat man grosse Hoffnungen in die digitalen Potenziale von Lehrmitteln gesetzt», sagt Bieri. «Heute sind sich die Fachleute einig, dass es analoge und digitale beziehungsweise hybride Medien braucht – je nach Schulstufe und Unterrichtsthema unterschiedlich ausgeprägt.»

Diese Botschaft haben die drei grossen Schweizer Lehrmittelverlage – Klett und Balmer, Schulverlag plus und Lehrmittelverlag Zürich – verinnerlicht. So meldet Klett und Balmer auf Anfrage, dass weniger als 30 Prozent der neuen Lehrmittel nur gedruckt seien und weniger als 15 Prozent bloss digital. Hybrid liegt mit über 60 Prozent vorn.

Auf die Kaufzahlen hat sich das jedoch noch nicht im gleichen Ausmass ausgewirkt. «Die Aufmerksamkeit für digitale Lehrmittel ist weit grösser als deren tatsächlicher Erwerb», sagt Patrik Wettstein, Geschäftsführer von Klett und Balmer. Dennoch dürften rein gedruckte Lehrmittel ohne digitale Erweiterungen weiter zurückgehen, der Anteil an hybriden und volldigitalen Lehrmitteln hingegen steigen.

«Am meisten gefragt sind Lehrmittel mit einem ausgewogenen Anteil an Print und Digitalem, je nach Lernziel und Kompetenz.»

Ähnliches berichtet Dirk Vaihinger, der den Lehrmittelverlag Zürich leitet: «Eine Weile lang gingen viele davon aus, dass alle Lehrmittel bald nur noch digital angeboten würden.» Heute produziere der Verlag aber alles hybrid, und das werde bis auf Weiteres so bleiben. Rein digitale Medien würden zunehmend abgelehnt. «Am meisten gefragt sind Lehrmittel mit einem ausgewogenen Anteil an Print und Digitalem, je nach Lernziel und Kompetenz.» Schreiben, Sprechen, soziales Lernen, vieles finde weiterhin in der körperlichen Welt statt.

Auch beim Schulverlag plus verfolgt man bei neuen Produkten eine dezidierte Hybridstrategie. Dafür steht eine eigene Plattform zur Verfügung. Das bekannteste Beispiel sind der neue Tiptopf und sein Webauftritt meintiptopf.ch. Dennoch gebe es auch eine stete Nachfrage nach Printprodukten. Dies gelte besonders für ältere Publikationen, sagt Patric Bezolla, Programmleiter des Schulverlag plus. Der Umsatz im digitalen Bereich bewege sich im kleineren bis mittleren zweistelligen Prozentbereich, mit gutem Wachstum: «Mit der stets besseren Ausstattung an den Schulen wird auch die Nachfrage nach digitalen Produkten steigen.»

Digital und analog: Beides hat Vor- und Nachteile

Die Gründe, warum die Verlage auf hybride Lehrmittel setzen, liegen auf der Hand. Beide haben sie Vor- und Nachteile. «Digitale Lehrmittel sind technisch voraussetzungsreicher, teurer und erhöhen die insgesamt problematische Bildschirmzeit», nennt Vaihinger vom Lehrmittelverlag Zürich einige Nachteile. «Sie ermöglichen aber Darstellungen und Simulationen, die im Buch nicht umsetzbar sind.» Wettstein von Klett und Balmer ergänzt, die digitalen Lehrmittel erlaubten Interaktionen wie automatisiertes Üben, sofortige Rückmeldungen und Feedback-Optionen, die einen hohen Grad an Individualisierung erreichen. «Aber sie bergen auch Ablenkung und Überforderung.»

Der deutsche Neurowissenschaftler Manfred Spitzer argumentiere sogar, dass ein übermässiger Gebrauch digitaler Medien die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen könne. Weil sich das Lesen am Bildschirm negativ auf das Leseverständnis der Kinder auswirkt, kehrt man in Schweden zu gedruckten Lehrmitteln zurück.

«Neue Medien erweitern die didaktisch-methodischen Möglichkeiten kumulativ, sie lösen die alten Medien aber nicht ab», bilanzierte Forscher Lucien Criblez in der Festschrift zum Jubiläum der ilz 2023 die Vor- und Nachteile. Das Zentrum des Unterrichts aber blieben die Lehrpersonen, auch wenn die zunehmende mediale Vielfalt den Unterricht immer wieder bereichere und die Rolle der Lehrperson verändere.

Künstliche Intelligenz, Flat Rate, Learning Analytics

Die Lehrpersonen respektive der didaktische Nutzen sind es denn auch, an denen sich die Verlage bei der Wahl der Medienform orientieren. Der Schulverlag plus etwa pflege den Austausch mit den Schulen über «Living School Labs», um Medienform und Nutzungserlebnis zu testen, berichtet Bezzola vom Schulverlag plus.

«Der Lernprozess ist eine Reise, und die verläuft durch alle Medienformate.»

«Wir digitalisieren nicht zum Selbstzweck: Das Bildungsziel definiert die Medienform, nicht umgekehrt.» Die zwei anderen Verlage bestätigen das: «Wir orientieren uns an den Kundenbedürfnissen», sagt Wettstein. Und Vaihinger meint: «Der Lernprozess ist eine Reise, und die verläuft durch alle Medienformate.» Oder anders: Die Frage des Mediums ist zweitrangig – entschieden wird nach didaktischem Nutzen.

Dass noch nicht alle Etappen für diese Reise eingerichtet sind, wird klar, wenn man die Verlage nach den künftigen Herausforderungen fragt. Beim Schulverlag plus will man vermehrt auch digitale Geschäftsmodelle und erweiterte Services mit den Lehrmitteln verbinden. Dazu gehören Dienstleistungen wie Lernanalysen, Pauschaltarife, künstliche Intelligenz oder virtuelle Assistenten. Gleichzeitig ist man überzeugt, dass gedruckte Bücher auf allen Schulstufen wichtig bleiben. Vaihinger vom Lehrmittelverlag Zürich betont: «Jugendliche müssen spätestens in der Schule lernen, Bücher zu lesen. Sonst wären die kulturellen und gesellschaftlichen Schäden fatal.»

Weiter im Netz

Fachbericht der interkantonalen Lehrmittelzentrale «Lehrmittel in einer digitalen Welt» – ilz.ch > Publikationen > Fachberichte

Autor
Daniel Fleischmann

Datum

12.06.2024

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