Islam Alijaj im Interview

«Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht»

SP-Nationalrat Islam Alijaj ist im Alltag auf Rollstuhl und Sprachassistenz angewiesen. Er kämpft allen Barrieren zum Trotz für eine inklusivere Gesellschaft. Diese beginne schon in der Schule.

Islam Alijaj sitzt lächelnd im Rollstuhl.
Islam Alijaj musste als Kind eine Sonderschule besuchen, obwohl er schulisch mehr hätte leisten können.

BILDUNG SCHWEIZ: Sie sitzen im Rollstuhl. Eine Muskelerkrankung erschwert Ihnen die Bewegung und das Sprechen. Wo bestehen in Ihrem Alltag die stärksten Einschränkungen?

ISLAM ALIJAJ: Im Alltag begegne ich vielen Barrieren. Oftmals beginnen diese in den Köpfen von Mitmenschen, die mir wegen meiner Behinderung wenig zutrauen. Dazu kommen viele physische Hindernisse: Im Bundeshaus muss ich etwa an nicht barrierefreien Eingängen klingeln, um Einlass zu erhalten. Lifte sind oftmals defekt. So habe ich schon ein paarmal wichtige Abstimmungen im Nationalrat fast verpasst. Schwierig ist es auch im öffentlichen Verkehr. In Zürich ist nur jedes zweite Tram rollstuhlgängig. Wir leben im 21. Jahrhundert. Das ist demütigend.

Mit 16 hatte ich das schulische Niveau eines Sechstklässlers, weil ich geistig nicht ausreichend gefördert wurde.

Bei der Einschulung kamen Sie in eine Sonderschule. Wie haben Sie das als Kind erlebt?

Ich wurde unterschätzt und das habe ich gespürt. Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer dort hat mein Potenzial nicht gesehen. Jahrelang wurde ich für geistig behindert gehalten, obwohl meine Intelligenz und mein Verstand von der Behinderung nicht betroffen sind. Mit 16 hatte ich das schulische Niveau eines Sechstklässlers, weil ich geistig nicht ausreichend gefördert wurde. Ich hasste es, als geistig behindert abgestempelt zu werden. Ich wusste, dass ich mehr leisten konnte.

Zur Person

Islam Alijaj (38) ist SP-Nationalrat und hat seit seiner Geburt eine Zerebralparese, die das Ansteuern der Muskeln erschwert. Davon ist auch die Zunge betroffen, wodurch die Aussprache undeutlich wird. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen und wird bei der Arbeit von einer Sprachassistentin unterstützt. Geboren wurde er 1986 in Kosovo. Seine Familie zog 1987 mit ihm in die Schweiz, wo er später eine Sonderschule besuchte und danach eine kaufmännische Lehre absolvierte. Als Politiker engagiert er sich für Inklusion und Behindertenrechte. Für sein Engagement erhielt Alijaj im Januar am WEF die Auszeichnung als «Public Social Innovator». Alijaj lebt mit seiner Frau und den zwei Kindern in Zürich.

Wie haben Sie die Wissenslücke geschlossen?

Das Wissen, das ich jetzt habe, musste ich mir im Selbststudium aneignen. Erst der Computer öffnete mir eine Welt ohne Vorurteile, in der ich meine Behinderung vergessen konnte. Ohne meine Familie hätte ich unmöglich so weit kommen können. Sie ist meine grösste Stütze und hat mein Potenzial immer gesehen und unterstützt.

Wo bemerken Sie die häufigsten Missverständnisse im Zusammenhang mit Inklusion und Gleichstellung?

Viele halten Inklusion für ein Nischenthema für Betroffene. Dabei geht es um gesellschaftliche Strukturen, die alle betreffen – vom Arbeitsmarkt bis zur Verkehrspolitik. Fünf Sekunden können entscheiden, ob jemand plötzlich doch auf Inklusion angewiesen ist. Zudem wird Behinderung oft mit Hilflosigkeit gleichgesetzt. Ich bin kein armes, hilfloses Geschöpf, sondern Vater, Politiker und Unternehmer.

Allen Herausforderungen zum Trotz haben Sie viel erreicht. Nicht zuletzt die Wahl in den Nationalrat. Nun wollen Sie das System revolutionieren. Inwiefern?

Ich will das Behindertenwesen radikal umgestalten: Weg von der «Behindertenindustrie», die Menschen in Werkstätten parkiert, hin zur Inklusion im ersten Arbeitsmarkt. Zudem muss die Invalidenversicherung (IV) wieder zur helfenden Hand werden. Sie soll Selbstbestimmung statt Abhängigkeit fördern. Dafür braucht es zum Beispiel einen Ausbau der Assistenzleistungen.

Wie können Lehrerinnen und Lehrer im Klassenzimmer zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen?

Lehrpersonen tragen jetzt schon viel dazu bei, die Bilder in den Köpfen zu verändern, und leisten damit einen enorm wichtigen Beitrag, um Vorurteile abzubauen. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, wie Lehrpersonen unterstützt werden müssen, damit inklusiver Unterricht zum Wohle aller gelingt – ohne die Lehrerinnen und Lehrer damit zu überlasten. Zum Beispiel können wir Ressourcen in inklusive statt separierende Strukturen lenken.

Aber das Problem ist weder die Inklusion, noch sind es die Kinder mit Behinderungen. Das Problem ist die Verteilung der Ressourcen.

Die Politik stellt viele Ansprüche an die Schule. Dazu kommt der Lehrermangel. Können Sie nachvollziehen, dass die Inklusion die Lehrpersonen auch überfordern kann?

Natürlich. Ich will betonen: Es geht mir nicht darum, den Lehrpersonen diese Überforderung abzusprechen. Das hat die Politik lange genug gemacht, gepaart mit ständigem Wegschauen. Aber das Problem ist weder die Inklusion, noch sind es die Kinder mit Behinderungen. Das Problem ist die Verteilung der Ressourcen. Die öffentliche Hand gibt Milliarden für Separation aus, zum Beispiel für Sonderschulen und IV, spart aber bei der Inklusion. Das ist kurzsichtig. Langfristig kostet Ausgrenzung mehr – sowohl finanziell als auch menschlich.

Selbst 20 Jahre nach Annahme des Behindertengleichstellungsgesetzes sind viele Bahnhöfe und Züge immer noch nicht barrierefrei. Erklärt wird das mit den hohen Kosten. Wie viel Integration kann sich unser Bildungssystem leisten?

Die Frage sollte eher sein, welche Kosten Separation verursacht. Kinder, die in Sonderschulen landen, finden als junge Erwachsene im ersten Arbeitsmarkt keinen Anschluss. Sie landen im zweiten Arbeitsmarkt — ohne Möglichkeit auf finanzielle Unabhängigkeit. Und so bleiben sie ein Leben lang abhängig vom Staat. Barrierefreiheit ist kein «nice to have», sondern ein Menschenrecht.

Wo liegen die Grenzen der Integration?

Die Grenzen liegen im politischen Willen, nicht im Geld. Länder wie die USA zeigen: Gesetze gegen Diskriminierung und klagbare Rechte schaffen Verbindlichkeit. Die Schweiz hat die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Jetzt muss sie handeln, nicht debattieren.

Nur gemeinsam können wir es schaffen, in der Schweiz eine inklusive Gesellschaft zu erreichen.

Selbst wenn Integration zunehmend besser wird – die Umsetzung braucht Zeit. Was raten Sie derweil Menschen, die mit einer Behinderung leben?

Bleibt dran. Nutzt jede technische und menschliche Unterstützung – sei es künstliche Intelligenz oder Assistenzen. Mein Weg war kein Zufall: Ich habe gelernt, meine Schwäche zur Stärke zu machen. Und vernetzt euch. Nur gemeinsam können wir es schaffen, in der Schweiz eine inklusive Gesellschaft zu erreichen.

Sie sind erst der dritte Nationalrat im Rollstuhl. Auch die Sprachassistenz mussten sie sich erkämpfen. Sie sind also in vielerlei Hinsicht ein Vorreiter. Das kann ermüdend sein. Woher nehmen Sie die Energie?

Meine Kinder sind meine Motivation. Ich will nicht, dass sie in einer Welt aufwachsen, die ihren Vater als minderwertig ansieht. Auch meine bisherige Geschichte hilft. Ich erinnere mich immer wieder daran, dass meine Behinderungen und mein Name diese eigentlich hätten verunmöglichen müssen. Zudem wäre ich nicht hier ohne mein Team sowie meine Unterstützerinnen und Unterstützer.

Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?

Das Bundeshaus ist ein Haifischbecken, also musste ich selbst zum Hai werden. Rückschläge sind Teil des Spiels – immerhin hatte ich den Listenplatz 11. Aber jedes Nein ist ein Ansporn, um lauter zu werden. Und: Ich lerne aus der Vergangenheit. Als Kind überlebte ich, indem ich mich in die Zukunft träumte. Heute lebe ich diese Zukunft.

Als ich mein erstes Votum hielt, hätte man die Luft schneiden können.

Der Zürcher Mitte-Nationalrat Philipp Kutter sagte jüngst, dass Behinderte immer noch unterschätzt werden. Können Sie das bestätigen?

Ja, das erlebe ich täglich. Bei der Wahl dachten viele: «Der mit dem Rollstuhl und der Sprechbehinderung – der kann doch kein Politiker sein.» Selbst Parlamentskolleginnen und -kollegen unterschätzten mich zunächst.

Wie machte sich das bemerkbar?

Als ich mein erstes Votum hielt, hätte man die Luft schneiden können. Es war ein Mix aus Besorgnis und Unsicherheit. Würde mit der Sprechassistenz und dem Mikrofon alles klappen? Würde ich gut rein- und rausfahren können? Es war noch nie so leise im Saal. Doch jetzt, nach über einem Jahr, bin ich im Parlament angekommen und kann mit Assistenz Politik auf Augenhöhe machen.

Die Schweiz wäre grundsätzlich bereit für einen Bundesrat mit Behinderungen.

In Ihrem Buch «Wir müssen reden» kündigten sie eine mögliche Kandidatur für den Bundesrat an. Ist das immer noch ein Ziel für Sie?

In meinem Buch träume ich von einem Bundesrat mit Behinderungen – und dieser Traum bleibt. Die neusten Diskussionen um die Nachfolge von Viola Amherd, wo mein Kollege Philipp Kutter auch eine Rolle spielte, hat gezeigt: Die Schweiz wäre grundsätzlich bereit für einen Bundesrat mit Behinderungen. Ob das ich bin oder jemand anders, das ist für mich sekundär.

 

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Autor
Patricia Dickson

Datum

03.04.2025

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