INKLUSION UND FÖRDERUNG
An dieser Tagesschule singen die Kinder
In Prêles im Berner Jura hat sich die Tagesschule «Arc en ciel» die Inklusion zum Ziel gesetzt. Die Schülerinnen und Schüler lernen darum etwa die Gebärdensprache und werden auch beim Erledigen ihrer Hausaufgaben individuell unterstützt.
Es ist zehn Uhr morgens. In der Tagesschule «Arc en ciel» in Prêles im Berner Jura bereiten die Betreuerinnen den Tag vor. Florine Némitz, die Leiterin der Tagesschule, sitzt in ihrem Büro. Sie ist sich Besuch von ausserhalb gewohnt: «Viele Tagesschulverantwortliche aus der Romandie interessieren sich für unser Konzept», sagt sie. Némitz hat es in den vergangenen neun Jahren stets weiterentwickelt und verfeinert. Und das Konzept vermag auch viele Eltern zu überzeugen – zum Beispiel Claudia Thöny. Die Deutschschweizer Lehrerin wohnt mit ihrer Familie erst seit zwei Jahren im Berner Jura im Nachbardorf Lamboing. «Die Tagesschule war mit ein Grund, weshalb wir uns für Lamboing entschieden haben», sagt Thöny. Arc en ciel, so scheint es, ist ein Standortvorteil der Gemeinde. Doch was ist daran so besonders?
Musik, Gebärdensprache und Inklusion
Die Tagesschule und die Volksschule von Prêles befinden sich unter einem Dach – in einem modernen Neubau, mitten im Dorf. Alle Kinder der ersten bis vierten Klasse des Schulverbunds Plateau de Diesse gehen hier zur Schule.
Arc en ciel, was übersetzt Regenbogen bedeutet, wird von 110 Kindern besucht. Im Moment befinden sie sich noch im Unterricht in der Volksschule. Kurz nach elf treffen dann die ersten Kinder in der Tagesschule ein. Sie begrüssen Némitz mit einer kurzen Umarmung. Die Tagesschulleiterin setzt sich danach in einem der Räume an ein elektrisches Klavier und die Kinder folgen ihr, während sie gemeinsam eine Melodie summen. Bis alle Schülerinnen und Schüler eingetroffen sind, singt die Gruppe mehrere Lieder.
Die Musik, als Gestaltungselement für den Übergang von der Schule in die Tagesschule, ermöglicht den Kindern ein ruhiges Ankommen. Sie sitzen, stehen oder liegen im Raum mit dem Klavier und singen mit. Will jemand nicht mitsingen, muss er nicht. Ein Bub ist denn auch lieber mit einem Spielzeugkatalog beschäftigt, mit dem er sich an einen Tisch zurückzieht. Die Betreuerinnen lassen ihn gewähren.
Als der Liederreigen zu Ende ist, kommuniziert das Némitz mit einer Gebärde. Diese Art der Verständigung gehört zum pädagogischen Konzept: «Kinder erreicht man mit der Stimme oft nicht. Deshalb lernen sie bei uns die Gebärdensprache», erklärt die Tagesschulleiterin. Allerdings werden nur die Grundformen gelehrt. Diese seien ausreichend, um sich untereinander ohne Worte verständigen zu können.
«Erst vor zwei Jahren wurde die Gebärdensprache offiziell anerkannt», sagt Némitz. «Deshalb finden wir es wichtig, dass die Kinder diese Sprache lernen, um mit Menschen sprechen zu können, die nicht hören.» Inklusion bedeute, nicht nur Kinder mit besonderen Bedürfnissen in die Tagesschule zu integrieren, sondern auch selber hinauszugehen und sich zu inkludieren.
Individuelle Förderung bei Hausaufgaben und Büchern
Musische Aktivitäten stehen in Arc en ciel jeden Tag auf dem Programm. «Die musische Förderung ist mir sehr wichtig», sagt Némitz, die ausser Lehrerin auch Schauspielerin ist. In der Musikecke steht deshalb ein grosser Garderobenständer mit vielen Verkleidungsstücken. Einmal in der Woche spielen die Kinder Theater.
«Kinder mit besonderen Bedürfnissen fühlen sich oft ganz anders», erklärt die Tagesschulleiterin. «Das Theater ist eine Möglichkeit, wie man trotz Verschiedenheit zusammen klarkommen kann. Es hat eine verbindende Kraft. Zudem kann man dabei seine Emotionen zeigen und sich bewegen.» Dies komme vielen Kindern mit besonderen Bedürfnissen sehr entgegen.
«Jedes Kind lernt anders. Dem versuchen wir Rechnung zu tragen.»
Den unterschiedlichen Voraussetzungen der Tagesschülerinnen und -schüler gewinnen die Verantwortlichen viel Positives ab. «Wir versuchen die Kinder so individuell wie möglich zu begleiten», sagt Némitz. Das gelte insbesondere auch beim Erledigen der Hausaufgaben. «Jedes Kind lernt anders. Dem versuchen wir Rechnung zu tragen.» Zum Beispiel müssen die Tagesschulkinder ihre Hausaufgaben nicht zwingend an einem Tisch erledigen, sondern dürfen dies auch im Liegen machen, sich dazu bewegen oder gar auf den Tisch sitzen.
Die Förderung der Individualität geht gar so weit, dass sich die Auswahl der Bücher an den Ansprüchen der einzelnen Kinder orientiert. «In unseren Büchern soll sich jedes einzelne Kind wiederfinden», erläutert Némitz dieses Vorgehen.
«In vielen Köpfen funktionieren Tagesschulen wie Kantinen.»
Arc en ciel als Lern- und Lebensort
«In vielen Köpfen funktionieren Tagesschulen wie Kantinen», findet Némitz. Arc en ciel möchte indes mehr sein als das: Ein Lern- und Lebensort, an dem man sich trotz Unterschiedlichkeiten achte und schätze. «Wir versuchen, den Schülerinnen und Schülern Werte zu vermitteln und ihnen etwas fürs Leben mitzugeben», sagt die Tagesschulleiterin.
Gelehrt und gelernt wird dies nicht nur bei musischen Aktivitäten, sondern auch in speziellen Projekten. So sind die Verantwortlichen mit den Kindern über längere Zeit regelmässig auf einen Bauernhof gegangen. Dabei haben diese viel über die Nahrungsmittelproduktion gelernt und durften sogar selber Lebensmittel herstellen, beispielsweise Teigwaren.
Mit einem Verein die Welt retten
Das nächste Projekt ist schon in Vorbereitung: Die Kinder möchten den Wald besser kennenlernen und dort übernachten. Organisiert wird der Anlass von ein paar Tagesschülerinnen und -schülern, die einen Verein gegründet haben. Dieser heisst: «Sauvons le monde – Wir retten die Welt».
Nach dem Mittagessen hat der Vorstand dieses Vereins eine Sitzung. Er will nicht nur im Wald übernachten, sondern auch Lesezeichen mit Umwelttipps darauf kreieren. Sie sollen zum Beispiel zeigen, wie man Abfall trennt oder Grünabfall kompostiert. Kamy Frochaux ist die junge Vizepräsidentin des Vereins.
Das Beste an der Tagesschule findet sie indes nicht den Verein, sondern – ganz pragmatisch – das Essen: «Es ist immer sehr fein.» Zudem dürften die Schülerinnen und Schüler nach dem Essen jeweils selbst entscheiden, was sie nun machen möchten. «Ich zeichne deshalb oft», erklärt Kamy.
Geerdet nach dem Tagesschulbesuch
Arc en ciel vereint viele Besonderheiten. Das denkt auch die Zuzügerin Thöny, die Némitz vergangenen Sommer zum ersten Mal getroffen hat, um sich das Konzept der Tagesschule erklären zu lassen. Heute schickt sie ihren Sohn im Kindergartenalter mit dem «allerbesten Gewissen» in den Arc en ciel. «Er ist nach dem Tagesschultag immer sehr geerdet. Zudem fühlte er sich von Anfang an sehr sicher, obwohl er die Sprache ja nicht konnte», sagt Thöny. Ihr Sohn erschliesse sich in der Tagesschule nicht nur neue Themen, sondern spreche zu Hause vor allem auch von den Menschen. Und diese vermittelten ihm «Werte, die ich mir für die Welt, mein Land, meine Familie und auch die Schule wünsche», so die Lehrerin. «Diese Tagesschule ist wie ein Sechser im Lotto.»
Autor
Mireille Guggenbühler
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