Pädagogik

Wie fair bewerten Lehrpersonen?

Schulnoten hängen von vielen Faktoren ab. Wie stark die Erwartung von Lehrpersonen und Eltern dabei ins Gewicht fallen, zeigt das neue Spiel «Unterrichten mit Fairdinand».

Teacher Looking Down On Group Of Secondary Or High School Pupils Inside School Building On Stairs
Was Kinder in der Schule leisten, hängt oft davon ab, was Erwachsene ihnen zutrauen. Foto: iStock/Monkeybusinessimages

Sie sei die Mutter von Max, hatte wie ihr Sohn schwarzes Haar und stand vor Annemarie Ebert im Klassenzimmer. Die junge Lehrerin bot Eltern einmal wöchentlich spontane Sprechstunden an, in denen sie vorbeikommen und sich über die Leistungen ihres Kindes informieren konnten. Ebert berichtete der Mutter begeistert davon, wie Max lebhaft am Unterricht teilnehme und stets gute Fragen stelle. Die Frau wirkte zwar erstaunt über diese Nachrichten, ging aber bester Laune nach Hause.

Erst nachdem die Tür in die Klinke gefallen war, wurde Ebert bewusst, dass sie vom falschen Kind gesprochen hatte. Denn in ihrer Klasse gab es zwei Knaben namens Max. Das schwarze Haar der Mutter hatte die Lehrerin zur Annahme verleitet, der schwarzhaarige Max sei der gemeinte Junge. Das stimmte aber nicht. Und noch schlimmer: Der Sohn der Frau, mit der Ebert gerade gesprochen hatte, fiel eher durch sein chaotisches Wesen auf, redete viel rein und spielte oft den Klassenclown. «Ich wollte im Boden versinken», sagt Ebert zu BILDUNG SCHWEIZ.

Doch dann passierte Wundersames: Tags darauf sei der chaotische Max bester Laune in die Schule gekommen, habe die Lehrerin freundlich gegrüsst und fortan aktiv und hoch motiviert im Unterricht mitgearbeitet. Eigentlich wollte Ebert zuerst das Versehen richtigstellen. Als sie das Kind aber so guter Dinge erlebte, entschied sie sich bewusst dagegen. Die Wirkung hielt über lange Zeit an.

Das ist nun knapp 15 Jahre her. Ebert, die heute an der Bezirksschule im aargauischen Zurzach Deutsch, Latein sowie Geschichte und Geografie unterrichtet, denkt hin und wieder an diese Episode aus ihrem ersten Jahr als Lehrerin zurück. «Sie zeigt, wie Feedback eine Beziehung festigen und jemanden dazu bringen kann, über sich hinauszuwachsen», sagt sie.

Spiel simuliert die schulische Benotung

Dass eine Über- und Unterschätzung frappante Auswirkungen auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler hat, ist längst bekannt und durch viele Studien belegt. Wie diese aber genau im Schulalltag zustande kommen können, zeigt ein neues Online-Spiel namens «Unterricht mit Fairdinand». Unter der Leitung von Markus Neuenschwander von der pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) wurde das Spiel entwickelt. Die Spielenden schlüpfen in die Rolle der Lehrperson. Sie werden mit Unterrichtssituationen konfrontiert und erhalten verschiedene Handlungsoptionen. Wie reagieren sie? Wie erklären sie sich die Leistung der Schülerinnen und Schüler? Und welche Auswirkung hat diese Erklärung?

Hat sich Reto angestrengt?

Im Zentrum des Spiels stehen fiktive Schülerinnen und Schüler, die unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Reto beispielsweise stammt aus einer Familie mit wenig Geld und Status und hat Mühe mit Deutsch und Mathematik. Malaika ist ursprünglich aus Kenia und erbringt gute Leistungen in Deutsch, kann sich aber nur wenig auf elterliche Unterstützung verlassen. Die Eltern von Josephine hingegen haben eine akademische Ausbildung und nehmen sich viel Zeit, um ihre Tochter zu unterstützen.

«Das Spiel zeigt blinde Flecken auf, die wir alle haben.»

Hat Reto seine Zeugnisnoten erreicht, weil er sich angestrengt hat? Welche Erwartungen haben Lehrpersonen und Eltern an seine Leistungen in Deutsch und Mathematik? Ein anderer Schüler, Nico, wird mit einer Präsentation, die er während der Schulstunde hätte erarbeiten müssen, nicht rechtzeitig fertig. Gibt die Lehrperson ihm mehr Zeit? Und welche Note erwartet die Lehrperson, falls die Präsentation tatsächlich unvollständig gehalten werden muss? Diese und weitere Fragen müssen die Spielenden beantworten. Das Spiel simuliert daraufhin die Auswirkung dieser Entscheidungen auf das Selbstkonzept und die Leistung der Schülerinnen und Schüler. In Textboxen werden die theoretischen Grundlagen erläutert. Neuenschwander ist es wichtig, dass die Spielenden die Mechanismen hinter «Unterricht mit Fairdinand» verstehen. Darum veranstalten er und sein Team mehrere Workshops, in denen sie Interessierten das Spiel näherbringen. Eine davon war Annemarie Ebert.

Keine absolute Gerechtigkeit bei Schulnoten

Sie beschäftige sich schon lange mit Fragen rund um die Bildungsgerechtigkeit. «Dass man beim Spiel den Einfluss meiner Erwartungen und der Erwartungen der Eltern auf die Entwicklung des Kindes veranschaulicht bekommt, hat mich besonders fasziniert», sagt sie. Zudem mache das Spiel bewusst, dass Unterrichtsmethoden und Arbeitsformen nur einen von vielen Einflussfaktoren auf die Leistung darstellen. Ebert hält es für wichtig, jungen Lehrpersonen den Einfluss ihrer Haltung auf die Leistungen der Schulkinder zu veranschaulichen.

Die Kettenreaktionen, die durch Kommunikation und Erwartungen ausgelöst werden, seien sehr faszinierend. Um den Unterricht möglichst gerecht zu gestalten, verzichtet Ebert schon lange auf das Erteilen von Hausaufgaben. «Ich weiss nicht, auf wie viel Unterstützung der Eltern ein Kind zählen kann. Mir ist auch nicht bekannt, ob es überhaupt über einen ruhigen Arbeitsplatz verfügt», sagt sie. Ebert will ihren Unterricht gerecht gestalten. Sie gibt sich jedoch keiner Illusion hin. Ihr sei klar, dass Schulbildung wohl niemals absolut gerecht sein könne. «Aber wir Lehrpersonen können daran arbeiten. Mit unseren Methoden und unserem Verhalten können wir zeigen, dass wir den Schülerinnen und Schülern etwas zutrauen.»

Neuenschwander ist vom Nutzen des Spiels überzeugt: «Es zeigt blinde Flecken auf, die wir alle haben», sagt er. Für die Macher des Spiels sei zentral gewesen, zu veranschaulichen, wie Über- und Unterschätzung von Schülerinnen und Schülern entstehen und wie sich diese auswirken. «Die oftmals abstrakten Studien, die als Grundlage für das Spiel dienen, werden so nachvollziehbar.»

Workshop zum Spiel

Wer sich für «Unterrichten mit Fairdinand» und für die dazu notwendigen Workshops interessiert, kann sich direkt beim Zentrum Lernen und Sozialisation der pädagogischen Hochschule FHNW unter ife.sozialisation.phnoSpam@fhnw.noSpamch melden. An den pädagogischen Hochschulen in Bern, Luzern, Zürich und Thurgau sowie an einigen Schulen wurden sie bereits durchgeführt. Das Spiel ist passwortgeschützt. Die Teilnahme am kostenpflichtigen Workshop ermöglicht die Weiterverwendung und Weitervermittlung des Spiels.

Autor
Alex Rudolf

Datum

31.12.2025

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