Lehrerin in den Bergen
Wer in der Idylle unterrichtet, braucht viel Durchsetzungskraft
Aglaia Gallmann unterrichtet an der kleinen Primarschule von Tarasp. Jahrelang war sie alleine. Wie ist es, wenn man als Lehrperson weitgehend auf sich allein gestellt ist? Ein Besuch im Bündnerland.

Direkt gegenüber vom Schulhaus, das mit «Chasa da scoula Tarasp» beschriftet ist, weiden Dutzende Schafe. Alle zwölf Schulkinder – sie besuchen die erste bis sechste Klasse – versammeln sich am Zaun, doch streicheln lässtl sich keines der Tiere. In dieser Idylle des politisch zu Scuol (GR) gehörenden Dorfs Tarasp gibt Aglaia Gallmann seit nunmehr 32 Jahren Schule.
Während mehrerer Jahre unterrichtete die 53-Jährige völlig allein. Mittlerweile kann sie als Schulleiterin aber auf ein fünfköpfiges Team zurückgreifen, das sie tatkräftig unterstützt. Wie lässt es sich arbeiten in einem derart kleinen Team? Wo liegen die Vor- und Nachteile und wie gefällt es den Schülerinnen und Schülern? An einem Herbstmorgen stattet BILDUNG SCHWEIZ Gallmann und ihrer Klasse einen Besuch im 216-Seelen-Dorf ab.
Niemand kann sich verstecken
Unter der getäfelten Decke des Schulzimmers im Obergeschoss treffen die Kinder um Punkt zehn Uhr ein. Eine Pausenglocke gibt es hier nicht. Die Schülerinnen und Schüler wissen auch so, wann der Unterricht beginnt. Angesagt ist eine Mathematikstunde, aber nicht als Frontalunterricht. Weil die Schulkinder unterschiedlich alt sind, sind sie auch unterschiedlichen Stufen zugeteilt. Jede Stufe hat ihren eigenen Stoff, den es zu vermitteln gilt.
«Ich war froh, wenn ich jemanden von der Verwaltung traf und einen kleinen Schwatz halten konnte.»
Die Mädchen und Buben haben keinen fixen Sitzplatz und können sich da niederlassen, wo sie sich gerade wohl fühlen. Die Kinder der fünften und sechsten Klasse bearbeiten in der einen Ecke ein Arbeitsblatt zu Proportionalität, die Jüngeren sitzen in einem Halbkreis vor der Wandtafel und lernen, wie man die Uhrzeiten von der einen in eine andere Zeitzone umrechnet. Zwei weitere Buben liegen am Boden und legen hochkonzentriert mit kleinen Bauklötzen das Zifferblatt einer Uhr aus und zählen anschliessend die Minutenzeiger ab. Es herrscht konzen-trierte Stille. Gallmann geht von Gruppe zu Gruppe und erklärt bei Bedarf. «Bei dieser Klassengrösse kann sich niemand verstecken – das ist gut für die Kinder», sagt Gallmann.
Obwohl ihre Eltern aus dem Kanton Zürich stammen, ist Gallmann durch und durch Bündnerin. Geboren und aufgewachsen ist sie auf der gegenüberliegenden Talseite in Ftan, wo ihr Vater eine Schule leitete. «Als Kind wollte ich nie Lehrerin werden», sagt sie. Dies änderte sich jedoch, nach verschiedenen Praktika – unter anderem in einer Bank und in einem Hotel. Die Arbeit als Skilehrerin weckte schliesslich ihre Lust auf das Unterrichten. Nach der Matura und zwei Jahren Lehrerinnenseminar in Chur nahm sie die Stelle in Tarasp an.
Kampf um die Einrichtung
Während der ersten paar Jahre in Tarasp hatte Gallmann den erfahrenen, langjährigen Dorflehrer zur Seite. Dies sei eine völlig andere Zeit gewesen. Anfänglich mussten sie sich bei der Schulbehörde sogar für die Anschaffung neuer Pulte und Regale einsetzen. Glücklicherweise durften sie die neue Wandtafel selber aussuchen, erinnert sie sich. Heute ist die Schule gut ausgerüstet, Tablets liegen zum Aufladen hinter dem Lehrerinnenpult.
Nach der Pensionierung ihres Lehrkollegen war Gallmann während einiger Jahre die einzige Lehrperson im Haus. Einsam war es dennoch nie. Im Erdgeschoss des Gebäudes war bis Mitte der Zehnerjahre noch die Gemeindeverwaltung untergebracht. «Ich war froh, wenn ich beim Kopierer jemanden von der Verwaltung traf und einen kleinen Schwatz halten konnte», erzählt Gallmann.

Diese Zeiten gehören jedoch der Vergangenheit an. Heute arbeiten hier auch eine schulische Heilpädagogin, eine Fachlehrerin für Deutsch, Ethik, Turnen sowie andere Fächer und eine Musiklehrerin, alle in reduzierten Pensen. Auch ein Sozialarbeiter gehört seit einigen Monaten zum Team, auch er mit kleinem Pensum. «Allein könnte ich die heutige Stundentafel gar nicht bewältigen», betont Gallmann. Einsam sei es nur noch während der Schulferien, wenn weder Kinder noch andere Lehrpersonen vor Ort seien. «In der Pause draussen allein zu sein, finde ich nicht lustig», sagt sie.
Klein, dafür spontan
Die Arbeit an dieser kleinen Schule gefällt Gallmann und beinhaltet für sie viel Schönes. Zum Beispiel die Spontaneität. Passe das Wetter, könne mit einem Tag Vorlaufzeit problemlos ein Ski- oder Projekttag einberufen werden: «Das wäre bei einer grösseren Schule wohl schwierig», stellt Gallmann fest. Auch dass man die Kinder und ihre Familien über einen so langen Zeitraum begleite, sei sehr sinnstiftend, sagt sie und ergänzt: «Von ehemaligen Schülerinnen und Schülern erhalte ich oft die Rückmeldung, dass sie die Zeit in der Primarschule Tarasp als sehr idyllisch empfunden haben.»
«Als kleine Schule müssen wir stets nach aussen tragen, was wir eigentlich leisten.»
Zudem sind die Wege kurz und Probleme werden pragmatisch gelöst. Etwa beim Werkunterricht: Gallmann wehrte sich einst beim örtlichen Schulrat, sie wolle den Werkunterricht nicht mehr mit allen Kindern der sechs Klassen durchführen. Die Arbeitslast sei zu gross. Da fragte man kurzerhand den Schreiner aus dem Dorf an, ob er diese Aufgabe übernehmen wolle. Er wollte – und tat dies für viele Jahre.
Grosses Pflichtgefühl
Weil die Beziehungen im Klassenverband so persönlich sind, verspürt Gallmann ein grosses Pflichtgefühl gegenüber den Kindern. Mehrmals waren interessante Stellen in der Region ausgeschrieben, doch sie entschied sich jeweils zum Bleiben und gegen eine Bewerbung. Denn für sie ist klar: «Ich bin eine wichtige Bezugsperson für die Kinder. Das ist mir bewusst.»
Generell sei die Einbindung ins Dorf sehr wichtig. «Als derart kleine Schule müssen wir stets nach aussen tragen, was wir eigentlich leisten.» Nur so merke man, dass die Schule einen tatsächlichen Mehrwert bietet. So komme auch grosse Wertschätzung zurück. Wie an jeder Schule gebe es auch Herausforderungen. Anschaffungen oder Ausgaben seien oftmals ein strittiger Punkt gewesen. Habe sie ein Anliegen vorgebracht, habe das meist nicht gereicht, um Ausgaben zu bewilligen. «Zuerst musste der Schulinspektor darauf hinweisen, dass eine Wand gestrichen werden sollte oder die pädagogische Hochschule die Notwendigkeit neuer Laptops betonen, bevor der örtliche Schulrat die Gelder dafür sprach», so Gallmann. Das habe sich nun aber gebessert.
Auch drohen sich Gallmanns Rollen als Lehr- und Privatperson hin und wieder zu vermischen, weil sich im Bergdorf alle kennen. Wenn Eltern an der Kasse des einzigen Lebensmittelgeschäfts in Tarasp über vermeintlich richtige Prüfungsantworten diskutieren wollen, muss sie Grenzen aufzeigen. «Dann sage ich jeweils, dass wir gerne einen Termin abmachen können. Ich mag nicht in aller Öffentlichkeit über Schulisches sprechen.»
Die Mathematikstunde ist vorüber. Die Kinder packen ihr Material zusammen und räumen die Bauklötze weg. Gemeinsam verlassen sie das Schulhaus und gehen an den Schafen vorbei nachhause. Gallmann schwingt sich auf ihr Fahrrad. Sie wohnt nur wenige Hundert Meter entfernt. Anderswo zu arbeiten, kann sie sich nicht so gut vorstellen. Zu stark ist die Verbindung mit den Bergen und den Menschen von Tarasp.
Autor
Alex Rudolf
Datum
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