Methode aus Japan

«Suzuki erzieht mit Musik»

Bei der Violinistin Nina Ulli lernen schon kleine Kinder, Geige zu spielen. Sie setzt auf die sogenannte Suzuki-Methode aus Japan. Diese schult das Gehör, aber auch den Charakter.

Nina Ulli bindet die Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler in den Geigenunterricht ein. Fotos: Philipp Baer

Bei Ihnen lernen schon Dreijährige die Geige zu spielen. Sind das alles Wunderkinder?

NINA ULLI: Nein. Ich unterrichte mit einer altersgerechten Methode, die auf der Überzeugung beruht, dass alle Kinder ein Instrument lernen können. In dem Alter ist das Gehirn ausserordentlich formbar. Der Erfinder der Methode, Shinichi Suzuki, hat sich am Erlernen der Muttersprache orientiert. Das geschieht durch Zuhören und Nachahmen. Alle Kinder lernen ihre Muttersprache unabhängig von Intelligenz und Schulunterricht.

Wie kann man sich das vorstellen?

Meine Schülerinnen und Schüler lernen, indem sie sich die Musikstücke oft anhören. So eignen sie sich Rhythmus und Melodie viel leichter an. Erst dann lernen sie, die Stücke zu spielen, und repetieren sie immer wieder.

Die Suzuki-Methode

Die Suzuki-Methode ist eine musikpädagogische Methode, die der japanische Geiger Shinichi Suzuki in den 1940er-Jahren entwickelt hat. Sie orientiert sich am Erlernen der Muttersprache – durch Hören, Nachahmen und Repetition. Der Unterricht beginnt häufig im Vorschulalter und bindet die Eltern aktiv ein. Ein besonderes Merkmal der Methode sind die sorgfältig strukturierten Lehrmittel. Diese gibt es unterdessen für mehrere Instrumente und auch für Mathematik. (pdi)

Instrumente sind für Kinder aber auch motorisch schwierig zu meistern.

Darum ist der Unterricht in kleine Schritte unterteilt. Jedes neue Stück bringt nur eine oder zwei neue Herausforderungen. Mehr nicht. So müssen sie sich nicht auf zu viele Dinge gleichzeitig konzentrieren. Das ermöglicht Fortschritte, ohne zu überfordern. Die Stücke wiederholen die Kinder täglich.

«Repetition wird bei uns unterschätzt.»

Ist zu viel Repetition nicht langweilig?

Nein. Kinder mögen, was sie können. Sie lieben es, die Musikstücke zu spielen, die sie bereits beherrschen. Repetieren wird in unserer Kultur unterschätzt. Wir haben oft das Gefühl, dass Fortschritt immer etwas Neues braucht. Repetition festigt das Gelernte und schafft eine solide Basis für weiteres Lernen.

Werden Kinder im traditionellen Unterricht also überfordert?

Das nicht, aber die traditionellen Methoden nutzen nicht immer das volle Lernpotenzial der Kinder. Gerade kleine Kinder sind motorisch stärker als kognitiv. Darum lernen sie mit Suzuki zuerst das Spielen über das Gehör. Auf Notenlesen wird verzichtet. Das kommt später.

Zur Person

Nina Ulli (43) ist eine Schweizer Violinistin. Im In- und Ausland tritt sie als Solistin und Kammermusikerin auf. In Zürich unterrichtet sie Kinder an ihrer eigenen Musikschule «SwissMusiKids» nach der Suzuki-Methode.

Sie stehen im In- und Ausland viel selbst als Solistin auf der Bühne. Was reizt Sie am Unterrichten?

Der Unterricht bereitet mir viel Freude. Ich sehe, wie die Kinder musikalisch und menschlich wachsen. Das ist wunderbar.

Unterricht kann aber anstrengend sein.

Ja. Denn manchmal macht man sich als Lehrperson viel Mühe und von den Lernenden kommt nur wenig zurück. Seit ich die Unterrichtsmethode und damit meine Einstellung geändert habe, ist mein Frust diesbezüglich verschwunden. Ich fühle mich kompetenter, sicherer und selbstwirksamer. Ich kann wirklich etwas bewirken. Die Kinder finden mit Suzuki einen natürlichen Zugang zur Musik. Sie müssen nicht mühsam Töne und Rhythmus erlernen. Wir können einfach aus ganzem Herzen miteinander musizieren.

Wie haben Sie die Methode für sich entdeckt?

Ich war als Expertin beim Stufentest an einer Musikschule eingeladen. Dabei fielen mir die Schülerinnen und Schüler einer Kollegin auf. Nicht nur musikalisch, sondern mit ihrem ganzen Auftritt. Sie trugen ihre Stücke selbstbewusst und gelassen vor. Ich fragte meine Kollegin nach ihrem Geheimnis und erfuhr so von der Suzuki-Methode. Ich begann daraufhin die Ausbildung als Suzuki-Lehrerin. Seitdem unterrichte ich danach.

Was hat dieser Schritt für Sie bedeutet?

Ich habe sehr viel dazugelernt. Ich teile nun den Unterricht in kleine Schritte auf. Das braucht eine Analyse, die mir auch als Musikerin eine neue Klarheit gibt. Das hilft mir bei der Interpretation und Performance enorm.

Und für Ihre Schülerinnen und Schüler?

Jedes Kind kann nun gut Geige spielen lernen. Das ist revolutionär. Geige ist ein schwieriges Instrument. Da verlieren viele Schülerinnen und Schüler das Interesse, wenn sie keinen Lernfortschritt erleben. Jetzt kann ich den Kindern, die bei mir lernen, versprechen, dass sie gut Geige spielen werden.

Auch schwierige Stücke?

Ja. Die Schülerinnen und Schüler erreichen alle ein gutes Niveau. Aber um die schwierigen Stücke geht es nicht. Das Ziel ist, auch das einfachste Kinderlied wunderschön zu spielen. Sie treffen die Töne, spielen gefühlvoll und mit einem schönen Klang.

Welche Rolle spielt das Talent im Musikunterricht?

Es ist keine Frage mehr, ob Talent vorhanden ist oder nicht. Talent bestimmt eigentlich nur das Lerntempo. Mir ist es wichtig, dass die Kinder das Musizieren lieben. Ich will ihnen die Möglichkeit geben, ihr ganzes Leben lang Musik zu machen. Das bildet auch den Charakter.

Wie das?

Die Kinder erlernen nicht nur ein Instrument. Der Suzuki-Unterricht fördert auch Geduld, Disziplin und Konzentration. Sie lernen zudem, Gefühle mit Musik auszudrücken. Beim Auftritt und im Zusammenspiel mit anderen Kindern profitieren sie auch sozial.

Kleine Kinder sind noch stark auf ihre Eltern angewiesen. Welche Rolle spielen diese im Suzuki-Unterricht?

Die Eltern sind von Anfang an dabei – egal, ob das Kind drei oder sieben Jahre alt ist. Sie begleiten die musikalische Entwicklung und unterstützen das Musizieren daheim. Ich erkläre die Spieltechnik so, dass die Kinder und die Erwachsenen es verstehen. Daheim üben sie es dann gemeinsam, bis es sitzt.

«Die Eltern gehören zum Lernprozess.»

Das klingt nach viel Arbeit für die Eltern.

Ja, denn Suzuki ist nicht nur Unterricht. Es ist Erziehung mit Musik. Ich bin mit den Eltern immer ehrlich: Es ist zunächst aufwendig. Denn sie gehören zum Lernprozess und besuchen zu Beginn den Unterricht gemeinsam mit den Kindern. Daheim gestalten sie die Lernumgebung und etablieren die Gewohnheit, täglich Geige zu üben.

Schreckt das die Eltern nicht ab?

Nicht unbedingt. Eltern, die zu mir kommen, wollen ihren Kindern Musik schenken. Mit Suzuki bekommen sie die Möglichkeit, ihr Kind zu fördern und ihm die Freude an der Musik zu schenken. Als Suzuki-Lehrerin begleite ich die Familie dabei. Ich leite die Eltern an, wie sie den Alltag lernfreundlicher gestalten und ihr Kind beim Üben begleiten können.

Wie gelingt das?

Es braucht viel Musik im Alltag, damit die Kinder über das Gehör lernen. Ausserdem sollte man einen festen Platz zum Üben einrichten – und das Handy soll weggelegt werden. So bleibt der Fokus auf der Musik.

Und wenn das Kind nicht üben will?

Dann braucht es Ermutigung. Wenn ein Kind sprechen lernt, wird es für jedes neue Wort überschwänglich gelobt. Im Musikunterricht muss man zwar nicht ständig loben, aber das, was ein Kind gut macht, soll benannt werden.

Wie weisen Sie auf Fehler hin?

Zuerst lobe ich, was gut gelungen ist. Danach gebe ich eine neue Herausforderung: das, was noch nicht gelungen ist. Zum Beispiel lobe ich die Haltung der linken Hand und fordere es auf, dabei noch den kleinen Finger zu runden. Ich will ein gutes Gefühl hinterlassen und vermitteln, dass Geigespielen einfach ist.

Wo sehen Sie das Potenzial der Methode für den regulären Schulunterricht?

Die Suzuki-Philosophie passt gut in die Volksschule: Jedes Kind kann lernen und hat Potenzial, ein hohes Niveau zu erreichen. Vieles hängt von unserer Einstellung als Lehrperson ab. Wir leben in einer pädagogischen Kultur, in der wir eher schauen, was fehlt, wenn etwas nicht klappt. Als Suzuki-Lehrerin suche ich jeweils nach anderen Möglichkeiten, um ein Kind zu erreichen.

Ist das sozusagen die pädagogische Quintessenz von Suzuki?

Ja. Ein wichtiger Fokus liegt auch auf der Arbeit mit den Eltern. Ich gebe ihnen das Repertoire mit, wie sie daheim mit positiven Formulierungen ihr Kind zum Üben motivieren können. Ich pflege den Kontakt bewusst und kommuniziere regelmässig, was gut läuft. Eltern freuen sich über positive Rückmeldungen.

In der Schule hat Musik nur beschränkt Platz und Zeit. Wie können Lehrpersonen den Alltag musikalisch bereichern?

Kleine musikalische Rituale sind Gold wert. Man kann beim Eintreffen der Kinder zum Beispiel immer die gleiche CD laufen lassen. Das schafft Struktur und gibt jedem Kind ganz einfach eine Grundmusikalität. Mit klassischer Musik, die leise im Hintergrund läuft, kann man auch gezielt etwas Ruhe in den Alltag bringen.

Autor
Patricia Dickson

Datum

30.09.2025

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