RÜCKSTAND, DER BLEIBT

«Sprachförderung darf man nicht dem Zufall überlassen»

Viele Jugendliche können nach der Schule schlecht lesen. Frühförderprogramme sollen verhindern, dass sprachliche Defizite den Schuleinstieg erschweren. Doch auch sie können nicht alles richten.

Kind hält sich den Mund zu.
Damit Kinder einen guten Einstieg in die Schulzeit haben, sollten Sprachdefizite vorher angegangen werden. Foto: iStock/stock_colors

1273 Haushalte in der Stadt Bern haben Anfang 2024 einen Brief vom städtischen Gesundheitsdienst erhalten. Es sind Familien, deren Kinder im Sommer 2025 in den Kindergarten kommen. Darunter sind solche, die eine andere Muttersprache als Deutsch sprechen. Zum fünften Mal in Folge hat Bern für sie das Angebot «Deutsch lernen vor dem Kindergarten» lanciert. Denn: «Wir möchten, dass alle Kinder die bestmöglichen Chancen in der Schule haben. Dafür sind gute Deutschkenntnisse sehr wichtig», sagt Eliza Spirig, Leiterin des Frühförderangebots «Primano».

Der Brief enthielt auch in diesem Jahr eine Elternbroschüre und einen Begleitbrief mit einem persönlichen Zugangscode zu einem Online-Fragebogen. Dieser liegt in vierzehn Sprachen vor. Damit können Eltern die Deutschkenntnisse ihres Kindes jeweils selbst einschätzen. Ergibt die Auswertung des Fragebogens, dass eine Sprachförderung nötig ist, wird den Eltern empfohlen, ihr Kind für zwei Tage pro Woche in einer Kindertagesstätte anzumelden oder für zwei Halbtage pro Woche in eine Spielgruppe zu schicken. Möglich ist auch eine Kombination mit einem Mutter-Kind-Deutschkurs. Im Schnitt wird bei einem Viertel der Kinder Förderbedarf festgestellt.

«Es kann nicht sein, dass 25 Prozent der Schulkinder Analphabeten sind.»

«Ziel ist es, die Kinder mit Förderbedarf in einer Gruppe in Alltagssituationen die deutsche Sprache erleben und lernen zu lassen», sagt Spirig. Ob beim Tischdecken in der Kita, beim Znüniessen in der Spielgruppe, beim Schuhe An- und Ausziehen oder ganz einfach beim Spielen: Der Tagesablauf in der Kita oder Spielgruppe hält viele Momente bereit, in denen der Wortschatz der Kinder erweitert und eine gezielte, sprachliche Förderung vorgenommen werden kann.

Sprache ist wichtig für Bildungserfolg

Die Sprache gilt als einer der wichtigsten Schlüssel für den Bildungserfolg. Wer im Vorschulalter nicht über einen ausreichenden, deutschen Wortschatz der Lokalsprache verfügt, wird mit einem sprachlichen Rückstand eingeschult. Diesen im Verlauf der Schulzeit aufzuholen, ist schwierig. Ein sprachlicher Rückstand kann sich unter anderem negativ auf die Lesekompetenz auswirken, die für ein erfolgreiches Lernen wichtig ist. Denn: «Lesen ist unser wichtigstes Instrumentarium beim Aufbau analytischen und kritischen Denkens», sagt Carl Bossard, Gründungsrektor der pädagogischen Hochschule Zug auf Nachfrage. Er äussert sich immer wieder dezidiert zum Thema.

Wie es um diese Lesekompetenz steht, hat die aktuelle Pisa-Studie aufgezeigt: Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler gilt in diesem Bereich als leistungsschwach. Das heisst, sie sind nicht in der Lage, einen Text zu verstehen. «Es kann doch nicht sein, dass 25 Prozent der Schulkinder funktionelle Analphabeten sind. Das ist ein Systemversagen», so Bossard.

Die Frühförderung soll es richten

Mit der sprachlichen Frühförderung will man den negativen Auswirkungen fehlender Sprachkenntnisse entgegentreten: Je früher Kinder, die eine andere Muttersprache als die lokale sprechen, Deutsch lernen, desto geringer fällt ihr Defizit bei der Einschulung aus. So zumindest das Fazit diverser Studien.

19 Kantone haben deshalb mittlerweile Angebote zur frühen Sprachförderung, um die Chancengleichheit beim Schulstart zu erhöhen. Die Massnahmen fallen sehr unterschiedlich aus, wie die vom Bund in Auftrag gegebene Studie «Frühe Sprachförderung» zeigt: So setzten die Verantwortlichen in der Romandie im Vergleich zur Deutschschweiz «viel stärker auf die Bereitstellung eines universellen Angebots der frühen Bildung für alle Kinder». Der Fokus liege dabei auf der Zugänglichkeit und Qualität der Angebote der frühen Bildung und weniger auf dem Aspekt der Sprachförderung, heisst es.

In der Deutschschweiz würden hingegen die selektiven Ansätze überwiegen. Diese richten die Sprachförderung klar auf Kinder mit anderen Erstsprachen aus. Viele Kantone setzten dabei auf Sprachstandserhebungen wie die Stadt Bern. So werden Kinder mit Sprachförderbedarf identifiziert und einer Fördermassnahme zugeführt.

Mutter-Kind-Sprachkurse im Tessin

Das Tessin wiederum wählt gemäss Studie nochmals einen anderen Weg. Es kombiniert selektive Massnahmen wie Mutter-Kind-Sprachkurse mit vielfältigen Unterstützungsmassnahmen für Familien mit Vorschulkindern. Zudem besuchen rund 70 Prozent der Tessiner Kinder bereits im Alter von drei Jahren die «Scuola d’Infanzia». Dabei werden Kinder, welche die Lokalsprache noch nicht sprechen, von Sprachförderlehrpersonen gezielt unterstützt.

Was bringt die frühe Förderung?

Doch was bringen die Frühfördermassnahmen wirklich in Bezug auf den Schulstart und im Hinblick auf die weitere schulische Laufbahn? Und weshalb fällt die Lesekompetenz gemäss Pisa-Studie bei einem Viertel der Jugendlichen in der Schweiz nach wie vor ungenügend aus?

Vorab ist zu bemerken, dass die Förderangebote relativ neu sind. In der Stadt Bern werden die Effekte des Sprachförderungsprogramms zudem gar nicht systematisch erfasst. Eliza Spirig hört aber von Lehrpersonen, dass ungenügende Sprachkenntnisse nach wie vor ein Problem seien, sagt sie.

Wirkung der sprachlichen Frühförderung wird nicht systematisch erfasst.

Eine Studie der Universität Basel aus dem Jahr 2014 hat denn auch gezeigt, dass der Besuch eines Förderangebots an zwei halben Tagen pro Woche die Deutschkenntnisse zwar deutlich verbessert. Der Rückstand zu gleichaltrigen Kindern mit Deutsch als Erstsprache könne jedoch nicht aufgeholt werden. Dieser Rückstand dürfte sich auf den Erwerb schulischer Kompetenzen, wie etwa das Lesen, auswirken.

Das Problem liegt noch anderswo

Eine andere Erklärung hat Bossard. «Lesen und Verstehen brauchen angeleitetes Üben – systematisch, intensiv, strukturiert. Gerade lernschwächere Kinder sind auf einen solchen Unterricht angewiesen.» Man müsse den Mut haben, das Üben zu revitalisieren – trotz der Komplexität und den Herausforderungen in den heutigen Schulen. Sprach- und Leseförderung dürfen nicht dem Zufall überlassen und das Üben nicht an Eltern und Privatinstitutionen delegiert werden.

«Geschichten, Gedichte und Verse sind nicht nur gemütsbildend, sondern geben auch ungefragt Modelle für Satzstrukturen und erweitern den Wortschatz», so Bossard weiter. An vielen Schulen werde heute aber mit netzbasierten Leseförderungsprogrammen wie Antolin gearbeitet. Die Kinder bekommen laut Bosshard Punkte, wenn sie Texte durchlesen und Fragen dazu beantworten können: «Daraus erwächst keine Lesekompetenz, sondern eine Technik, wie man Punkte sammelt», kritisiert er. Er mahnt, Lehrpersonen, Schulleitung und Schulkommission müssten sich darauf verständigen, dass Lesen und Verstehen bedeutsam seien und gezielt gefördert werden sollten.

Auch in der frühen Sprachförderung wünschen Expertinnen und Experten ein «zielgerichtetes Vorgehen, mehr Koordination und mehr Harmonisierung», um eine hohe Qualität zu gewährleisten», wie es in der Studie «Frühe Sprachförderung» heisst. Die Studienautorinnen empfehlen dem Bund, gesetzliche Grundlagen für die frühe Bildung sowie Grundsätze zur Qualität, Zugänglichkeit und Finanzierung zu schaffen. Oder wie es Bossard ausdrückt: «Sprachförderung darf man nicht dem Zufall überlassen.»

Autor
Mireille Guggenbühler

Datum

28.01.2025

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