Benötigen Schülerinnen und Schüler einfache integrative Massnahmen, werden diejenigen aus niedrigeren sozialen Schichten oft benachteiligt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der pädagogischen Hochschule Bern.
Konkret geht es um die Massnahmen reduzierte individuelle Lernziele (Rilz) und Nachteilsausgleich (Nag). Sie kommen bei leichtem besonderem Bildungsbedarf oder leichter Beeinträchtigung zum Zug. Das Problem dabei: Lernende aus sozioökonomisch niedrigeren Schichten erhalten häufiger Rilz als Nag. Eine Lernzielreduktion ist aber nicht unproblematisch. Sie wird eingesetzt, wenn die Lehrperson eine beeinträchtigte Leistungsfähigkeit und ein vermindertes kognitives Potenzial vermutet. Dann werden Lernziele und -inhalte angepasst. Ausserdem wird die Massnahme im Zeugnis vermerkt.
Lernende erhalten dagegen einen Nachteilsausgleich, wenn eine Lehrperson annimmt, dass die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten vorhanden sind, aber das Potenzial nicht vollständig ausgeschöpft werden kann – etwa wegen einer bestimmten Beeinträchtigung oder fehlender Sprachkompetenzen. Hier werden nicht die Lerninhalte, sondern die Rahmenbedingungen angepasst. Das kann etwa den Beizug einer assistierenden Person oder eine längere Prüfungsdauer bedeuten. Diese Massnahme wird nicht im Zeugnis vermerkt.
Deutliche Benachteiligung bei Lernzielreduktion
Bei der Vergabe der Massnahmen sollte nur die Leistung einer Schülerin oder eines Schülers zählen. Doch wurden bei Lernenden aus sozial niedrigeren Schichten deutlich häufiger die Lernziele reduziert, auch wenn sie vergleichbare Leistungen wie Lernende aus höheren sozialen Schichten erbrachten. «Dieses Ergebnis weist auf deutliche Benachteiligungsmechanismen bei der Vergabe des Nag aufgrund der sozialen Herkunft hin», heisst es in der Studie.
Ein grosses Problem dabei ist, dass eine Lernzielreduktion mit negativen Effekten einhergeht. Gemäss Studie schätzten Lehrpersonen das kognitive Leistungspotenzial von Lernenden mit Rilz systematisch schlechter ein als das anderer Lernender – auch bei gleichen schulischen Leistungen und gleicher Intelligenz. Zudem ist die Leistungsentwicklung geringer. Vermutlich hänge das mit Faktoren wie niedrigeren Erwartungen, weniger anspruchsvollen Lernangeboten und einer geringeren Unterstützung zusammen.
Im Gegensatz dazu gibt es beim Nachteilsausgleich eher positive Entwicklungen, was die Leistung und das schulische Selbstbild der Lernenden angeht. Zudem müssen sie nicht mit negativen Nebeneffekten rechnen.
Aufgrund dieser Erkenntnisse nehmen die Studienautorinnen und -autoren an, dass nicht alle Lernenden Nachteilsausgleich erhalten, die ihn brauchen. Um dieser Ungleichbehandlung vorzubeugen, empfehlen sie, die Lernzielreduktion stets durch eine Fachperson abklären zu lassen und zwingend mit der Förderung durch eine schulische Heilpädagogin oder einen -pädagogen zu kombinieren. Weiter sollten Lehr- und Fachpersonen über die Risiken der Massnahme informiert sein, um ihnen aktiv entgegenwirken zu können. Auch könnte der Eintrag von Rilz in das Zeugnis überdacht oder – wie beim Nag – komplett weggelassen werden.
Über die Studie
Die Längsschnittstudie Belima fand im Kanton Bern statt und ist dreiteilig. Im ersten Teil stand die Primarschule im Fokus, im zweiten Teil die Oberstufe. Die Erkenntnisse der Primarstufe wurden in der Oberstufe mehrheitlich bestätigt. Die dritte Studie läuft noch bis Ende 2025 und fokussiert auf den Einfluss von Rilz und Nag auf die weitere Berufs- oder Bildungslaufbahn.