Aufklärung

Sex bleibt ein Reizthema im Unterricht

Schule soll aufklären. Das besagt der Lehrplan, doch die Umsetzung ist umstritten. Was kann und soll Sexualkunde leisten? Und was nicht?

Eine Lehrperson spricht vor einer Klasse.
In der Sexualpädagogik spricht man nicht nur über Geschlechtsteile und Geschlechtsverkehr. Es geht auch um Beziehung und Identität. Foto: iStock/LumiNola

Vor 13 Jahren sorgte ein Koffer im Kanton Basel-Stadt für Schlagzeilen. Die Boulevardmedien betitelten ihn als Sexkoffer, denn er enthielt unter anderem Penisse und Vulven aus Plüsch. Leserinnen und Leser empörten sich über eine angebliche Frühsexualisierung der Kinder. Die Klarstellung der Behörden, dass die Plüschteile erst im Unterricht mit älteren Jugendlichen zum Einsatz kämen, wurde weitgehend ignoriert. Zusätzlich zum Aufklärungskoffer erhitzte der kantonale Leitfaden zur Sexualkunde die Gemüter. Dieser besagte unter anderem, dass bereits im Kindergarten über Geschlechtsteile gesprochen werden sollte, damit schon kleine Kinder unerwünschte Berührungen erkennen und benennen können. In der Folge formierte sich ein Elternkomitee, und mehrere Eltern beantragten einen Dispens für den Sexualkundeunterricht ihrer Kinder.

Aufklärung muss sein

Wie steht es heute um diese Diskussion? Gemäss Lehrplan 21 liegt die Hauptverantwortung für die Sexualaufklärung zwar bei den Erziehungsberechtigten. Doch auch die Schulen haben einen klaren Bildungsauftrag. Sie sollen sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche grundlegende Kenntnisse über Körper und Sexualität sowie gesundheitliche Prävention erwerben.

«Es geht auch um Nähe und Distanz.»

Die Umsetzung ist umstritten. Konservative Stimmen warnen mit Kampfbegriffen wie Genderwahn und Frühsexualisierung, während progressive Kreise auf die Thematisierung von sexueller Orientierung und Diversität bestehen. Im Frühling erst gab es einen Vorstoss im Aargau, nachdem sich eine Mutter über die vermeintliche Frühsexualisierung ihrer Tochter beklagt hatte. Im Mai wollte die Luzerner SVP mit einem Vorstoss gegen die Thematisierung von Genderidentität und diversen sexuellen Orientierungen im Aufklärungsunterricht vorgehen. Mittendrin stehen die Lehrpersonen, die Sexualkunde vermitteln sollen. Die zentrale Frage bleibt: Wie können Kenntnisse über Sexualität und Genderidentität vermittelt werden, ohne unnötige Kontroversen zu schüren? Und wie sieht eine moderne ​Sexualaufklärung überhaupt aus?

Auch Lehrkräfte haben Fragen

Unterstützung erhalten Lehrpersonen und Schulen von Fachstellen. «Lehrerinnen und Lehrer können mit all ihren Fragen und Anliegen zu uns kommen», sagt Vera Studach, Stellenleiterin von «liebesexundsoweiter» in Winterthur. Den Lehrerinnen und Lehrern fehle es nicht grundsätzlich an Wissen, betont sie. «Wir beraten eher darin, wie man heikle Fragen beantworten kann.»

Die Fachstelle «liebesexundsoweiter» bietet neben kostenloser Beratung auch Weiterbildungen sowie Schulbesuche ausgebildeter Sexualpädagoginnen und -pädagogen an. Letztere sind explizit als Ergänzung des Aufklärungsunterrichts gedacht. Es könne sinnvoll sein, dass Jugendliche intime Fragen den Fachpersonen stellen würden und nicht einer Lehrperson, bei der sie mehrere Jahre zur Schule gingen, sagt Studach. «Es geht bei dem Thema auch um Nähe und Distanz.» Auch externe Fachleute seien an die Schweigepflicht gebunden.

Die Nachfrage scheint tatsächlich gross zu sein. Studach und ihr Team betreuen im Kanton Zürich pro Jahr 150 Klassen. Die Fachstelle sexuelle Gesundheit Aargau (Seges) beschäftigt momentan 8 Personen für 250 Klassen. Eigentlich seien die Ressourcen für höchstens 70 berechnet, sagt Geschäftsleiter Michael Ganz. Die Nachfrage nach externer Unterstützung sei jedoch gestiegen. «Innerhalb weniger Jahre hat sich die Anzahl der Klasseneinsätze versiebenfacht.» Er empfiehlt, dass sich Lehrpersonen derselben Schule absprechen. Oft wecke der Besuch der Sexualpädagoginnen und -pädagogen auch das Interesse weiterer Klassen. Zentral für das Gelingen des Schulbesuches ist die Rolle der Schulleitung. «Sie muss sicherstellen, dass die Mindestinhalte, wie Anatomie, Pubertätsveränderungen und sexuelle Vielfalt, bereits im Unterricht behandelt wurden» sagt Ganz. Die Schulleitung müsse zudem Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit sexualpädagogischen Inhalten unsicher fühlten, Unterstützung ermöglichen.

Vor jedem Schulbesuch besprechen die Fachpersonen von Seges die Unterrichtsthemen mit den Lehrpersonen. Für den 90-minütigen Unterricht dienen meist anonym gestellte Fragen der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt. Dieses Frage-Antwort-Konzept habe sich bewährt. «Das schafft einen Zugang zu Themen wie Menstruation und Verhütung», sagt der Geschäftsleiter. Um einen offenen Austausch zu ermöglichen, würden sie stets im gemischtgeschlechtlichen Team in die Klassen gehen und sich nach der Einführung aufteilen, führt Ganz aus.

Jedem Alter seine Aufklärung

Bei Schulbesuchen zur sexuellen Aufklärung werden heikle Themen angesprochen. Das ist den Fachpersonen der Beratungsstellen bewusst. «Wir legen Wert darauf, dass die Kinder jederzeit den Raum verlassen dürfen, wenn ein Thema sie überfordert – insbesondere, wenn sie möglicherweise bereits sexualisierte Gewalt erlebt haben», betont Studach. Lehrpersonen rät sie, Themen wie Verhütung oder Geschlechtskrankheiten nicht zu früh zu behandeln. «Nur durch eine ausgewogene Herangehensweise können wir eine fundierte, unaufgeregte Sexualpädagogik gewährleisten», so die Stellenleiterin. Es brauche ein Bewusstsein dafür, dass es sich bei der sexuellen Bildung um ein Menschenrecht handelt, das auch sexuellen Missbrauch verhindern soll.

«Die Kinder dürfen jederzeit den Raum verlassen.»

«Kinder sollen Fragen stellen dürfen und sachliche Antworten erhalten», sagt Ganz. Sexualität müsse als facettenreicher Bestandteil des Lebens dargestellt werden, ohne richtige oder falsche Normen zu definieren. Fundierte Sexualkunde verhindere auch, dass Jugendliche fragwürdige Quellen konsultierten. Ganz ist zuversichtlich, dass die Entwicklung klar in Richtung einer sachlichen und altersgerechten Vermittlung läuft. Ein weiteres Ziel der Sexualpädagogik sei die Entschleunigung, ergänzt Studach. Kinder und Jugendliche würden oft mit Themen konfrontiert, bevor sie diese richtig verarbeiten könnten. «Wir setzen einen Gegenpol, indem wir eine altersgerechte und fundierte Wissensvermittlung bieten.» Sexualpädagogik vermittle mehr als das Wissen über Geschlechtsteile und -verkehr. Sie umfasse Aufklärung zu Körper, Identität und Beziehungen.

Gewalt und Mobbing vorbeugen

Besonders wichtig sei heute die sexuelle Vielfalt, so Studach. Schulen hätten die Aufgabe, Akzeptanz und Respekt für alle sexuellen Orientierungen zu fördern. «Kinder und Jugendliche sollen in der Schule lernen: ‹Ich bin okay, so wie ich bin›, selbst wenn sie zu Hause andere Werte vermittelt bekommen», betont die Stellenleiterin. Michael Ganz sieht das ähnlich. «Ein offenes Schulklima und frühzeitige Aufklärung helfen, sexualisierte Gewalt zu minimieren und erleichtern ein selbstbestimmtes Outing.» Dies könne Mobbing vorbeugen und stärke die psychische Gesundheit.

Und übrigens: Penisse und Vulven aus Plüsch sind bis heute gerne eingesetztes Anschauungsmaterial im Sexualkundeunterricht mit älteren Jugendlichen. «Sie haben sich bewährt», sagt Studach. Plüsch sei im Unterschied zu Plastik beweglich. Damit könne sie viel mehr erklären, zum Beispiel die Funktion der Vorhaut oder dass Geschlechtsteile auch unterschiedlich geformt sein könnten. «Jugendliche kichern zwar beim ersten Anblick der Plüschmodelle, können dann aber besser nachvollziehen, was ich erkläre.»

Autor
Brigitte Selden

Datum

04.09.2025

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