Rituale und Routinen

«Rituale helfen auch in schwierigen Situationen»

Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der Rituale und Traditionen. An der Schule aber bedeutet Weihnachten nicht für alle das Gleiche. Yvonne Vogel von der pädagogischen Hochschule Zürich erklärt, welche Rituale an Schulen passen und wie sie gelingen.

Yvonne Vogel sitzt in einem Sessel.
Rituale geben dem Alltag und dem Jahr Struktur, sagt Yvonne Vogel. Fotos: Philipp Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Weihnachtszeit ist auch an Schulen etwas Besonderes. Wie war das, als Sie selber Schülerin waren?

YVONNE VOGEL: Ich habe sie als eine sehr schöne Zeit in Erinnerung. Weil wir eine sehr einheitliche Klasse hatten, was soziokulturelle Hintergründe und Religion betrifft, waren die Anlässe auch religiös gefärbt. Wir sangen Weihnachtslieder und einmal stand sogar ein kleiner Weihnachtsbaum im Klassenzimmer. Und eine Lehrerin feierte mit uns einmal Weihnachten im Wald. Wir konnten zudem freiwillig die Roratemesse besuchen. In der Kirche war alles finster und nur ein paar Kerzen brannten, als wir Lieder sangen.

Könnte man das heute noch so machen?

Ich denke, so wäre das heute nicht mehr möglich. Gemäss Volksschulgesetz muss der Unterricht politisch und religiös neutral sein. Zudem sind die Klassen heute heterogener. Solche Traditionen würden allenfalls nicht verstanden werden. Sie wären zu religiös gefärbt.

Sollten so alte Traditionen an Schulen überhaupt noch gepflegt werden?

Sie können durchaus noch gepflegt werden. Aber man sollte sie aufgrund der heutigen Vorgaben und der multikulturellen Zusammensetzung der Klassen kritisch hinterfragen. Zudem hat sich die Sicht auf gewisse Traditionen verändert, gerade auf religiöse. Heute können Lehrpersonen das Kennenlernen von Traditionen am besten in das Fach Religionen, Kulturen, Ethik einbetten. Aber das kann sich von Fall zu Fall auch unterscheiden.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe während sieben Jahren in einer sehr ländlichen Gemeinde unterrichtet. In dieser Schule wurde in der Weihnachtszeit traditionell ein Krippenspiel aufgeführt. Das war dort problemlos möglich. Später unterrichtete ich in der Kleinstadt Sursee im Kanton Luzern, wo in der Schule sehr viele unterschiedliche Nationalitäten und Religionen zusammenkamen. Dort habe ich die Rituale rund um die Advents- und Weihnachtszeit anders gestaltet.

Was haben Sie anders gemacht?

Ich habe ein Buch mit 24 Geschichten gefunden, welche für jeden Tag der Adventszeit je eine Weihnachtstradition eines anderen Landes vorstellten. Ich kann mich zum Beispiel noch an Schweden erinnern, wo der Julbock, auf Deutsch Weihnachtsbock, ein beliebtes Weihnachtssymbol ist. Mit den Geschichten konnten wir die Weihnachtszeit neutral und trotzdem spannend gestalten. Auch Wichteln, bei dem man sich gegenseitig kleine Geschenke macht, wurde von den Kindern oft gewünscht.

Die Kinder Ihrer Klasse konnten mitreden?

Ich habe sie mitbestimmen lassen, welche Aktivitäten wir machen. Es ist wichtig, dass die Kinder ein Mitspracherecht haben. Das erhöht die Akzeptanz von Ideen und die Motivation, mitzumachen. Ich möchte den Kindern keine Ideen aufzwängen, die nicht zu ihnen passen.

Zur Person

Yvonne Vogel arbeitet seit 2020 an der pädagogischen Hochschule Zürich. Als Dozentin bietet sie Weiterbildungen für berufseinsteigende und erfahrene Lehrpersonen an, darunter den Kurs «Routinen, Regeln, Rituale». Vor ihrer Anstellung als Dozentin unterrichtete sie als Primarlehrerin an verschiedenen Schulen auf unterschiedlichen Stufen.

Welche Herausforderungen gibt es bei Traditionen heute abgesehen von Multikulturalität noch?

Es ist generell wichtig, dass einerseits die Kinder miteinbezogen und informiert werden. Andererseits sollen auch die Eltern und weitere Beteiligte darüber informiert werden, um was es bei gewissen Anlässen oder Aktivitäten geht. So kann auch mal ein Ausflug in die Kirche stattfinden, weil alle wissen, dass das Lernen im Zentrum steht und nicht zum Beispiel das Beten.

Gerade Weihnachten und Advent sind von vielen Ritualen geprägt. Was macht Rituale eigentlich aus?

Dass sie einem vorgegebenen Ablauf folgen und gewissermassen einen klaren Rahmen haben. Rituale sind zeitlich begrenzt und haben einen Anfang und einen Schluss. Sie finden nicht spontan statt, sondern sind in der Regel geplant. Zudem ist ein Ritual etwas aus der realen Welt, es hängt meist mit bestimmten Handlungen zusammen. Die Teilnehmenden nehmen dabei verschiedene Funktionen ein. An einem Geburtstagsritual beispielsweise nimmt das Geburtstagskind eine andere Rolle ein als seine Gäste oder die Klassenkameradinnen und -kameraden. Je nachdem erfordern Rituale zudem bestimmte Gegenstände oder Räumlichkeiten.

«Ohne Spielraum laufen Rituale Gefahr, starr und leblos zu werden.»

Zeichnen sich Rituale also dadurch aus, dass sie von festen Zeiten, Rollen und Abläufen geprägt sind?

Das ist sicher ein Teil davon. Aber gerade bei Lehrpersonen finde ich es wichtig, dass sie einen gewissen Handlungsspielraum schaffen. Rituale laufen sonst Gefahr, starr und leblos zu werden. Im Buch «Rituale an Schulen» gibt es ein gutes Beispiel dazu. Es dreht sich um die unterschiedlichen Begrüssungsrituale, die zwei Klassen jeweils am Montagmorgen zum Unterrichtsbeginn durchgeführt haben. Die Kinder der einen Klasse standen immer auf, wenn die Lehrperson den Raum betrat, und grüssten sie im Chor, bevor sie sich wieder hinsetzten. In der anderen Klasse war jede Woche ein Kind an der Reihe, einen Gegenstand aus der Natur in den Unterricht zu bringen, um ihn gemeinsam im Kreis anzuschauen und zu diskutieren. Dieses zweite Begrüssungsritual ist viel lebendiger, da es mehr Raum für Beteiligung bietet.

Ist es nicht sogar dieser Handlungsspielraum, der ein Ritual von einfacher Routine abgrenzt?

Ja, ich denke, das ist eine mögliche Abgrenzung zwischen den Begriffen. Routine hat zudem eher einen sachlichen Aspekt. Ein Ritual hingegen umfasst auch emotionale Komponenten wie das Geniessen, das Wir-Gefühl und das Gestalten. Routine dient zumindest mir eher dazu, meine kognitiven Ressourcen zu schonen – oder jene der Kinder. Hier kann ich einem festen Ablauf folgen und muss nicht gross überlegen, was jetzt als Nächstes zu tun ist. Deshalb pflegen viele Menschen zum Beispiel bestimmte Morgenroutinen.

Aber spricht man denn nicht auch vom Morgenritual?

Meiner Meinung nach wird der Begriff teilweise etwas überstrapaziert. Aber es ist tatsächlich so, dass es zwischen Ritualen und Routine keine scharfe Trennlinie gibt. Es fehlt in der Literatur auch eine allgemeingültige Definition für den Begriff Ritual. Ich denke, oft ist der Blickwinkel ausschlaggebend. So ist etwa das Zähneputzen vor dem Schlafengehen für die meisten einfache Routine. Aber putzt eine Familie gemeinsam die Zähne, bevor die Kinder zu Bett gehen, erhält das Ganze einen gemeinschaftlichen und emotionalen Aspekt. Somit wird es meinem Verständnis nach zu einem Ritual.

Was machen Rituale eigentlich mit uns?

Rituale geben uns Struktur im Alltag und über das ganze Jahr hinweg. Dadurch vermitteln sie eine gewisse Sicherheit. Wir Erwachsenen mögen Wiederholungen, und Kinder haben sie ganz besonders gerne. Man kennt das zum Beispiel vom Geschichtenerzählen: Kinder wollen bestimmte Geschichten immer wieder hören – und immer genau so, wie sie sie bereits kennen. Abgesehen von Sicherheit geben uns Rituale zudem ein Wir-Gefühl, was einen schönen Gegensatz zum Individualismus in unserer Zeit bildet. Rituale haben jedoch auch einen mächtigen Effekt, was es schwierig macht, sich ihnen zu entziehen – besonders für Kinder in der Schule. Deshalb sollten wir uns in dem Kontext stets Gedanken dazu machen, ob ein bestimmtes Ritual für die Kinder und Lehrpersonen tatsächlich stimmt.

«Rituale können die Beziehung zwischen Klasse und Lehrperson stärken.»

Haben Rituale im durchgetakteten Schulalltag noch einen Platz?

Auf jeden Fall. Bei Ritualen steht nicht die Leistung im Zentrum, sondern es geht vielmehr um das innere Wohlbefinden und die Emotionen. Rituale können Freude auslösen und Ruhe vermitteln. Ein Lehrer hat mir zudem einmal davon erzählt, wie Rituale die Beziehung zwischen ihm und der Klasse stärken. Spielt eine Lehrperson vor den Ferien zum Beispiel ein Spiel mit den Kindern oder Jugendlichen, erkennt die Klasse, dass die Lehrperson ihr etwas Gutes tun will. Das unterstützt sie gleichzeitig bei der Klassenführung.

Was zeichnet für Sie ein gelungenes Ritual aus?

Dass es auf die Situation abgestimmt ist. Deshalb ist es nicht ratsam, eine Idee unreflektiert aus der Fachliteratur oder aus den sozialen Medien zu übernehmen. Als Lehrperson sollte ich mir bewusst machen, wozu ich ein bestimmtes Ritual einführen will, wie ich es gestalten will und ob es zur Situation, zu den Kindern und zu mir passt. Ist man in einem Punkt unsicher, kann man die Idee der Klasse präsentieren und Meinungen einholen, was sie davon hält. War das Ritual beim ersten Mal ein Erfolg, sollte man sich zudem bei jeder Wiederholung fragen, ob es so immer noch für alle stimmt.

Was empfehlen Sie, wann Lehrpersonen Rituale durchführen sollen?

Ich finde es wichtig, Übergänge zu gestalten. Dazu gehören zum Beispiel der Start oder das Ende eines Schuljahrs oder ein Verabschiedungsritual, wenn Schülerinnen und Schüler in die Oberstufe wechseln. Mit Ritualen lassen sich auch spezielle Anlässe gestalten, etwa Geburtstage oder der Weggang einer Lehrperson. Sie können sogar bei schwierigen Situationen helfen. Dazu gibt es ein ergreifendes Beispiel einer ehemaligen Kollegin von mir. Sie hat mit ihren Schülerinnen und Schülern das Ritual etabliert, dass sie in der Schule zusammen eine Kerze anzündeten, wenn ein Kind in einer schwierigen Situation war. Das machten sie etwa dann, wenn ein Familienmitglied eines Kindes krank war oder wenn eine Prüfung anstand. Eines Tages verstarb überraschend der Bruder eines Mädchens. Es wollte möglichst bald darauf wieder in die Schule, weil es wusste, dass die Lehrerin ein Kerzchen für es anzünden würde. Das ist ein ganz einfaches Ritual, aber für das Kind hatte es grosse Kraft und Bedeutung.

Autor
Kevin Fischer

Datum

10.12.2024

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