KINDESWOHL IN GEFAHR

«Man darf ein Kind auf blaue Flecken ansprechen»

Schulen sind wichtig für den Kinderschutz. Am besten werden die Eltern im Verdachtsfall früh einbezogen, sagt Regina Jenzer, Dozentin für Kinder- und Erwachsenenschutz.

Frau mit Brille und braunem Haar.
Regina Jenzer empfiehlt Lehrpersonen, bei einem Gefährdungsverdacht nicht alleine zu handeln. Fotos: Marion Bernet

Sie waren Lehrerin und Sozialarbeiterin. Wie merkt man, dass das Kindeswohl gefährdet ist?

REGINA JENZER: Es gibt nicht das eine, klare Gefährdungsmerkmal. Doch gibt es verschiedene Anzeichen, die auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten können. Zum Beispiel wenn ein Kind plötzlich einen mehrmonatigen Leistungsabfall hat oder es sich sozial auffällig verhält. Auf Vernachlässigung deuten etwa sehr häufiges Zuspätkommen oder mangelnde Aufsicht und Betreuung ausserhalb der Schulzeit hin.

Wie verlässlich sind solche Anzeichen?

Ganz eindeutig sind sie selten. Es ist wichtig, nach solchen Anzeichen Ausschau zu halten, doch muss auch klar sein, dass viele davon unterschiedliche Ursachen haben können. Entwicklungsverzögerungen können zum Beispiel auf eine Kindeswohlgefährdung, aber auch auf ein Geburtsgebrechen zurückzuführen sein. Man sollte deshalb keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern immer versuchen, das Kind eine Weile zu beobachten, um sich ein Gesamtbild von ihm und seiner Situation zu machen.

Wann ist es dann so weit, dass eine Lehrperson reagieren sollte?

Wir empfehlen, dass die erste Reaktion frühzeitig und niederschwellig erfolgt. In den meisten Situationen ist es sinnvoll, das Kind beiläufig auf beobachtete Auffälligkeiten anzusprechen. Ausserdem sollten die Eltern zeitnah einbezogen werden. So kann bei Bedarf frühzeitig Unterstützung organisiert werden. Auch sind die Schulen verpflichtet, die Eltern einzubeziehen und mit ihnen zusammen zu arbeiten. Das ist in verschiedenen kantonalen Volksschulgesetzen festgehalten.

Was tun, wenn man unsicher ist, ob und wie ein Thema mit den Eltern angesprochen werden soll?

Dann können sich Lehrpersonen vorher von der Schulsozialarbeit oder einer spezialisierten Fachstelle wie einem Sozialdienst beraten lassen. Bei den Fachstellen ist es wichtig, den Fall anonymisiert zu schildern. Gibt jemand einfach den Namen des Kindes oder der Familie bekannt, verletzt diese Person den Datenschutz.

Zuerst sollte aber das Gespräch mit dem Kind gesucht werden.

Genau. In meinen Weiterbildungen spüre ich manchmal Unsicherheit dazu: Dürfen wir ein Kind ansprechen, wenn es mit blauen Flecken in die Schule kommt?

Lehrpersonen sollten nicht alleine etwas unternehmen.

Meine Antwort darauf lautet eindeutig: Ja, man darf und es ist wichtig.

Worauf sollte man dabei achten?

Ein Kind sollte grundsätzlich nie dazu gedrängt werden, etwas zu erzählen. Vertraut sich ein Kind der Lehrperson an und berichtet ihr davon, dass es zu Hause Gewalt erlebt, ist es wichtig, dem Kind keine falschen Versprechungen zu machen, wie etwa dass man das Anvertraute nicht weitererzählt. Stattdessen sollte die Lehrperson dem Kind sagen, dass es gut ist, dass es sich ihr anvertraut hat. Dann sollte transparent erklärt werden, welche Schritte nun unternommen werden. Ebenfalls wichtig ist, das vom Kind Erzählte möglichst rasch zu dokumentieren. Es gibt allerdings auch wenige Ausnahmen, bei denen ich davon abrate, zuerst das Kind anzusprechen. Besteht etwa ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch, sollte sicher erst eine darauf spezialisierte Fachstelle kontaktiert werden.

Zur Person

Regina Jenzer ist Dozentin für Kinder- und Erwachsenenschutz im Departement «Soziale Arbeit» an der Berner Fachhochschule und unterrichtet zum Thema Kindesschutz an der pädagogischen Hochschule Bern. Davor hat sie als Sozialarbeiterin auf einem Sozialdienst gearbeitet und auf Primar- und Realschulstufe unterrichtet.

Angenommen, der Gefährdungsverdacht erhärtet sich. Was tun?

Für eine Lehrperson ist wichtig, dass sie dann nicht alleine etwas unternimmt. Ein erster Schritt sollte sein, sich mit Kolleginnen und Kollegen zu besprechen, die ebenfalls mit dem Kind zusammenarbeiten. So lässt sich herausfinden, ob sie ähnliche Beobachtungen machen. Wenn es in der Schule eine Schulsozialarbeit gibt, sollte sie frühzeitig miteinbezogen werden. Sie verfügt über die Instrumente, um einzuschätzen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegen könnte oder nicht. Kommt man gemeinsam zum Schluss, dass eine Gefährdung vorliegt, muss die Schulleitung informiert werden, um das weitere Vorgehen gemeinsam zu besprechen. In der Regel lädt die Schule in einem nächsten Schritt die Eltern für ein Gespräch ein.

Dann entscheidet am Ende also die Schulleitung über das weitere Vorgehen.

Es ist empfehlenswert, dass die Schulleitung in solchen Situationen die Verantwortung übernimmt, auch um die Lehrpersonen zu entlasten. Ich beobachte häufig, dass sich die Lehrpersonen grosse Sorgen um die Kinder machen. Sie tragen oft viel Verantwortung. Ab einem bestimmten Punkt sollte die Schulleitung sie deshalb unterstützen. Im weiteren Prozess ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Schulleitung, Lehrperson und Schulsozialarbeit wichtig.

Was geschieht, wenn eine Lehrperson ein Kind zu seiner eigenen Sicherheit nicht mehr nach Hause lassen möchte?

In diesen seltenen Fällen sprechen wir von einem Notfall. Ein solcher liegt zum Beispiel vor, wenn ein Kind eindeutige Anzeichen von erheblicher Misshandlung oder schwerer Vernachlässigung aufweist und es medizinische oder psychologische Unterstützung benötigt. In akuten Gefährdungssituationen sagt das Kind vielleicht selbst, dass es nicht mehr nach Hause will. Dann sollten umgehend die Schulsozialarbeit mit einbezogen und die Schulleitung informiert werden. Diese sollte dann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb kontaktieren, die Situation des Kindes schildern und das weitere Vorgehen besprechen.

Und was geschieht mit dem Kind?

Die Lehrperson oder die Schulsozialarbeit können sich während der Abklärung um das Kind kümmern, denn ihm geht es in einer solchen Situation oft nicht gut. Wichtig ist, das Kind in einer altersgerechten Sprache darüber aufzuklären, welche Schritte die Schule nun unternimmt und weshalb sie das tut.

Vorbereitung ist beim Gespräch mit den Eltern wichtig.

Zudem hilft es dem Kind, wenn es gefragt wird, was sein Wohlbefinden verbessern könnte.

Lehrpersonen haben manchmal Angst davor, in einem Verdachtsfall aktiv zu werden. Zu Recht?

Das ist verständlich. Sie stellen sich viele Fragen wie zum Beispiel, was mit dem Kind passiert und wie die Eltern reagieren. Grundsätzlich haben Lehrpersonen und Schulen eine gesetzliche Meldepflicht. Gerade für Primarschulkinder sind Lehrpersonen oft auch Vertrauenspersonen, weshalb sie bei der Erkennung von Kindeswohlgefährdungen eine grosse Rolle spielen. Das kann gewisse Risiken mit sich bringen. Schwerwiegendere Vorkommnisse wie Drohungen seitens der Eltern sind aber sehr selten. Sollte es trotzdem passieren, ist es wichtig, sich mit der Kesb abzusprechen und die Polizei einzuschalten.

Was sind denn die wahrscheinlicheren Folgen?

Viel häufiger passiert es, dass die Eltern ein wenig das Vertrauen in die Schule verlieren, etwa wenn die Schule eine Gefährdungsmeldung bei der Kesb macht. Das ist für Lehrpersonen schwierig, da sie weiter mit den Eltern zusammenarbeiten sollen. Deshalb ist es wichtig, dass frühzeitig das Gespräch mit ihnen gesucht wird. Idealerweise kann dadurch bereits im Einvernehmen mit den Eltern Hilfe eingeleitet werden, sodass eine Gefährdungsmeldung gar nicht erst nötig wird.

Solche Gespräche klingen nicht einfach.

Sie sind tatsächlich eine Herausforderung. Eine kompetente Gesprächsführung ist dafür zentral. Die Schulsozialarbeit oder eine spezialisierte Fachstelle kann bei der Gesprächsvorbereitung unterstützen. In den meisten Fällen empfiehlt es sich, wenn die Schulleitung die Gesprächsleitung übernimmt, insbesondere auch, um die Lehrperson zu entlasten.

Worauf gilt es beim Gespräch zu achten?

Vorbereitung ist wichtig. Man sollte den Eltern auf Augenhöhe begegnen und sie nicht für ihr Erziehungsverhalten verurteilen. Vielmehr sollte klar werden, dass die Schule die Eltern unterstützen will. Am Ende verfolgen Schule und Eltern das gleiche Ziel, nämlich dass sich das Kind gut entwickeln kann. Eltern sind meistens viel kooperativer, wenn sie merken, dass es explizit um das Wohl des Kindes geht und dass man es und die Familie unterstützen möchte. Das gilt auch, wenn eine Gefährdungsmeldung an die Kesb nötig wird. Dann ist wichtig aufzuzeigen, dass das Ziel ist herauszufinden, ob die Familie Unterstützungsbedarf hat und wenn ja, wie dieser aussieht. Eine Gefährdungsmeldung bedeutet nicht, dass den Eltern ihr Kind weggenommen wird. Diese Befürchtung ist weit verbreitet, obwohl die Kesb eine solch einschneidende Massnahme nur sehr selten anordnet, nämlich wenn andere Hilfeleistungen nicht ausreichen.

Wie viel Gewicht hat der Kinderschutz in der pädagogischen Ausbildung?

Ich kann das nicht pauschal beantworten, weil ich nicht alle Studiengänge der pädagogischen Hochschulen (PH) in der Schweiz kenne. Aber meiner Meinung nach dürfte das Thema in den Studiengängen für Primar- und Sekundarstufen mehr Gewicht haben. Am Institut für Heilpädagogik an der PH Bern, wo ich unterrichte, ist das Thema Kinderschutz im Masterstudiengang umfangreich verankert. Besonders wichtig wäre das Thema auch in der Ausbildung von Schulleitungspersonen. Im Fall einer Kindeswohlgefährdung spielen sie eine grosse Rolle. Sie sind dafür verantwortlich, in ihren Schulen ein Gefährdungsmanagement einzuführen und zu etablieren, bei dem die Abläufe und Zuständigkeiten bei einem Vorfall klar definiert sind.

Ist der Kinderschutz nicht eine grosse Zusatzbelastung für Lehrpersonen?

Es sollte nicht so sein. Der Beruf ist herausfordernd genug, insbesondere angesichts des Fachkräftemangels. Lehrpersonen und Schulleitungen brauchen zwar Grundkenntnisse, aber sie müssen keine Expertinnen und Experten in Kinderschutzfragen sein. Deshalb möchte ich sie motivieren, bei einem Vorfall frühzeitig den Kontakt mit der Schulsozialarbeit und Fachstellen aufzunehmen.

Autor
Kevin Fischer

Datum

02.09.2025

Themen