Angenommen, der Gefährdungsverdacht erhärtet sich. Was tun?
Für eine Lehrperson ist wichtig, dass sie dann nicht alleine etwas unternimmt. Ein erster Schritt sollte sein, sich mit Kolleginnen und Kollegen zu besprechen, die ebenfalls mit dem Kind zusammenarbeiten. So lässt sich herausfinden, ob sie ähnliche Beobachtungen machen. Wenn es in der Schule eine Schulsozialarbeit gibt, sollte sie frühzeitig miteinbezogen werden. Sie verfügt über die Instrumente, um einzuschätzen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegen könnte oder nicht. Kommt man gemeinsam zum Schluss, dass eine Gefährdung vorliegt, muss die Schulleitung informiert werden, um das weitere Vorgehen gemeinsam zu besprechen. In der Regel lädt die Schule in einem nächsten Schritt die Eltern für ein Gespräch ein.
Dann entscheidet am Ende also die Schulleitung über das weitere Vorgehen.
Es ist empfehlenswert, dass die Schulleitung in solchen Situationen die Verantwortung übernimmt, auch um die Lehrpersonen zu entlasten. Ich beobachte häufig, dass sich die Lehrpersonen grosse Sorgen um die Kinder machen. Sie tragen oft viel Verantwortung. Ab einem bestimmten Punkt sollte die Schulleitung sie deshalb unterstützen. Im weiteren Prozess ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Schulleitung, Lehrperson und Schulsozialarbeit wichtig.
Was geschieht, wenn eine Lehrperson ein Kind zu seiner eigenen Sicherheit nicht mehr nach Hause lassen möchte?
In diesen seltenen Fällen sprechen wir von einem Notfall. Ein solcher liegt zum Beispiel vor, wenn ein Kind eindeutige Anzeichen von erheblicher Misshandlung oder schwerer Vernachlässigung aufweist und es medizinische oder psychologische Unterstützung benötigt. In akuten Gefährdungssituationen sagt das Kind vielleicht selbst, dass es nicht mehr nach Hause will. Dann sollten umgehend die Schulsozialarbeit mit einbezogen und die Schulleitung informiert werden. Diese sollte dann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb kontaktieren, die Situation des Kindes schildern und das weitere Vorgehen besprechen.
Und was geschieht mit dem Kind?
Die Lehrperson oder die Schulsozialarbeit können sich während der Abklärung um das Kind kümmern, denn ihm geht es in einer solchen Situation oft nicht gut. Wichtig ist, das Kind in einer altersgerechten Sprache darüber aufzuklären, welche Schritte die Schule nun unternimmt und weshalb sie das tut.
Vorbereitung ist beim Gespräch mit den Eltern wichtig.
Zudem hilft es dem Kind, wenn es gefragt wird, was sein Wohlbefinden verbessern könnte.
Lehrpersonen haben manchmal Angst davor, in einem Verdachtsfall aktiv zu werden. Zu Recht?
Das ist verständlich. Sie stellen sich viele Fragen wie zum Beispiel, was mit dem Kind passiert und wie die Eltern reagieren. Grundsätzlich haben Lehrpersonen und Schulen eine gesetzliche Meldepflicht. Gerade für Primarschulkinder sind Lehrpersonen oft auch Vertrauenspersonen, weshalb sie bei der Erkennung von Kindeswohlgefährdungen eine grosse Rolle spielen. Das kann gewisse Risiken mit sich bringen. Schwerwiegendere Vorkommnisse wie Drohungen seitens der Eltern sind aber sehr selten. Sollte es trotzdem passieren, ist es wichtig, sich mit der Kesb abzusprechen und die Polizei einzuschalten.
Was sind denn die wahrscheinlicheren Folgen?
Viel häufiger passiert es, dass die Eltern ein wenig das Vertrauen in die Schule verlieren, etwa wenn die Schule eine Gefährdungsmeldung bei der Kesb macht. Das ist für Lehrpersonen schwierig, da sie weiter mit den Eltern zusammenarbeiten sollen. Deshalb ist es wichtig, dass frühzeitig das Gespräch mit ihnen gesucht wird. Idealerweise kann dadurch bereits im Einvernehmen mit den Eltern Hilfe eingeleitet werden, sodass eine Gefährdungsmeldung gar nicht erst nötig wird.
Solche Gespräche klingen nicht einfach.
Sie sind tatsächlich eine Herausforderung. Eine kompetente Gesprächsführung ist dafür zentral. Die Schulsozialarbeit oder eine spezialisierte Fachstelle kann bei der Gesprächsvorbereitung unterstützen. In den meisten Fällen empfiehlt es sich, wenn die Schulleitung die Gesprächsleitung übernimmt, insbesondere auch, um die Lehrperson zu entlasten.
Worauf gilt es beim Gespräch zu achten?
Vorbereitung ist wichtig. Man sollte den Eltern auf Augenhöhe begegnen und sie nicht für ihr Erziehungsverhalten verurteilen. Vielmehr sollte klar werden, dass die Schule die Eltern unterstützen will. Am Ende verfolgen Schule und Eltern das gleiche Ziel, nämlich dass sich das Kind gut entwickeln kann. Eltern sind meistens viel kooperativer, wenn sie merken, dass es explizit um das Wohl des Kindes geht und dass man es und die Familie unterstützen möchte. Das gilt auch, wenn eine Gefährdungsmeldung an die Kesb nötig wird. Dann ist wichtig aufzuzeigen, dass das Ziel ist herauszufinden, ob die Familie Unterstützungsbedarf hat und wenn ja, wie dieser aussieht. Eine Gefährdungsmeldung bedeutet nicht, dass den Eltern ihr Kind weggenommen wird. Diese Befürchtung ist weit verbreitet, obwohl die Kesb eine solch einschneidende Massnahme nur sehr selten anordnet, nämlich wenn andere Hilfeleistungen nicht ausreichen.
Wie viel Gewicht hat der Kinderschutz in der pädagogischen Ausbildung?
Ich kann das nicht pauschal beantworten, weil ich nicht alle Studiengänge der pädagogischen Hochschulen (PH) in der Schweiz kenne. Aber meiner Meinung nach dürfte das Thema in den Studiengängen für Primar- und Sekundarstufen mehr Gewicht haben. Am Institut für Heilpädagogik an der PH Bern, wo ich unterrichte, ist das Thema Kinderschutz im Masterstudiengang umfangreich verankert. Besonders wichtig wäre das Thema auch in der Ausbildung von Schulleitungspersonen. Im Fall einer Kindeswohlgefährdung spielen sie eine grosse Rolle. Sie sind dafür verantwortlich, in ihren Schulen ein Gefährdungsmanagement einzuführen und zu etablieren, bei dem die Abläufe und Zuständigkeiten bei einem Vorfall klar definiert sind.
Ist der Kinderschutz nicht eine grosse Zusatzbelastung für Lehrpersonen?
Es sollte nicht so sein. Der Beruf ist herausfordernd genug, insbesondere angesichts des Fachkräftemangels. Lehrpersonen und Schulleitungen brauchen zwar Grundkenntnisse, aber sie müssen keine Expertinnen und Experten in Kinderschutzfragen sein. Deshalb möchte ich sie motivieren, bei einem Vorfall frühzeitig den Kontakt mit der Schulsozialarbeit und Fachstellen aufzunehmen.