Leseförderung

«Kinder spüren, ob Erwachsene gerne lesen»

Immer mehr Kinder haben Mühe, Texte zu lesen und zu verstehen. Der Lehrer und Kinderbuchautor Daniele Meocci plädiert dafür, Lektüre stärker im Schulalltag zu verankern.

Buchautor Daniele Meocci gestikuliert im Gespräch.
«Bücher, Kapitel und Sätze müssen heute kürzer sein, damit Kinder sie verstehen», findet Kinderbuchautor Daniele Meocci. (Fotos: Marion Bernet)

Jede achte Person, die in der Schweiz aus der Schule kommt, versteht Texte nur ungenügend. Was läuft schief?

DANIELE MEOCCI: Ein wesentlicher Faktor ist der gesellschaftliche Wandel. Kinder wachsen heute mit digitalen Medien auf, ihre Freizeit ist stark durchgetaktet, die Aufmerksamkeitsspanne kürzer. Lesen steht in Konkurrenz zu reizintensiven Angeboten – das wirkt sich sowohl auf die Lesezeit als auch auf die Lesekompetenz aus. Ursachen finden sich aber auch in der Schule.

Welche?

Nehmen wir die Unterstufe: Buchstaben und Laute müssen sorgfältig eingeführt und regelmässig geübt werden. Das braucht Zeit und Begleitung. Gleiches gilt für den Leseprozess. Doch der Schulstoff ist heute stark verdichtet, Lehrpersonen müssen viel vermitteln – Vertiefung und Repetition kommen oft zu kurz. Darunter leiden besonders schwächere Kinder.

Was müsste sich denn ändern?

Früher wurde stärker an den Grundkompetenzen gearbeitet – das müsste wieder vermehrt geschehen. Leseförderung darf nicht nur im Deutschunterricht stattfinden, sondern sollte von der ersten bis neunten Klasse in allen Fächern konsequent umgesetzt werden. Wenn Lesen in allen Lebens- und Lernbereichen vorkommt, wird es auch selbstverständlich beherrscht.

«In der Schule wird zu viel gesprochen. Aufträge können auch schriftlich erfolgen.»

Wie könnte das gelingen?

In der Schule wird zu viel gesprochen. Aufträge können auch schriftlich erfolgen – so werden Lesen und Textverständnis gefördert. Lehrpersonen sollen in allen Fächern gezielt Lesemomente einbauen: Zum Beispiel, im Textilen und Technischen Gestalten Arbeitsanleitungen schriftlich abgeben. Lesen ist eine Schlüsselkompetenz und muss täglich gepflegt werden.

Sie unterrichten selbst seit vielen Jahren. Wie bringen Sie Kindern das Lesen näher?

Während meiner Zeit als Klassenlehrer in der Unter- und unteren Mittelstufe war das Vorlesen ein festes Ritual – die Kinder liebten es. Ich habe das Lesen zelebriert, jedes Mal war es ein kleines Ereignis. Die Freude an Geschichten ist die Brücke zur Freude am eigenen Lesen. Wichtig ist auch die Vorbildfunktion: Kinder spüren, ob Erwachsene gerne lesen, und lassen sich davon anstecken.

Und wenn ein Kind nicht gerne liest?

Ein Patentrezept gibt es nicht. Lesen sollte fest im Alltag verankert sein, etwa vor dem Einschlafen. In der Schule helfen feste Lesezeiten: Meine Klasse las vor Unterrichtsbeginn und nach der grossen Pause jeweils zehn Minuten. So kamen pro Woche über 100 Minuten Lesezeit zusammen.

Zur Person

Daniele Meocci, geboren 1964 in Bern, ist Lehrer sowie Kinder- und Jugendbuchautor. Meocci schreibt Bilderbücher, Erstlesebücher und Kinderromane. An der pädagogischen Hochschule Bern gibt er Kurse zu den Themen Erzählen und Vorlesen. Diesen Herbst ist sein neustes Buch «Hühner streicheln und Zoff mit Knuffel» beim Baeschlin Verlag erschienen.

Welche Bücher würden Sie dafür empfehlen?

Aktuelle Kinderbücher, die in der heutigen Zeit spielen und heutige Themen aufgreifen. Kinder sollen sich in den Büchern wiederfinden. «Zu Hause sein» in einem Buch ist etwas ganz Wichtiges.

Keine Klassiker?

Klassiker wie zum Beispiel «Ronja Räubertochter» von Astrid Lindgren sind grossartig, aber sprachlich und inhaltlich nicht mehr zeitgemäss. Für viele Kinder ist die Sprache in diesen Büchern zu schwierig und die Beschreibungen sind zu lang. Das langweilt sie schnell.

Waren diese Bücher früher auch schon zu schwierig?

Nein. Sie waren anspruchsvoll, aber verständlich. Heute haben sich Sprache, Themen und Ausdrucksweise verändert.

Ist es denn nicht wichtig, Klassiker zu kennen?

Doch, man kann sie im Unterricht thematisieren, etwa Auszüge lesen und vergleichen: Wie schrieb man damals, wie heute?

Aber?

Kinder lesen nach Lust und Interesse, und das ist gut so. Diese natürliche Leselust sollte man zulassen und fördern. Dazu gehört auch, ein Buch weglegen zu dürfen, wenn es einem nicht gefällt. Wachsen Freude und Lesekompetenz, greifen Kinder von selbst zu anspruchsvollerer Lektüre. Bis dahin ist es Aufgabe der Lehrpersonen und Eltern, die Freude am Lesen wachzuhalten.

«Je vielfältiger man fördert, desto eher finden Kinder Zugang zum Lesen.»

Was war Ihr liebstes Kinderbuch?

Ich wuchs mit Otfried Preusslers «Das kleine Gespenst» auf, später mit «Nils Holgersson» von Selma Lagerlöf. «Die Rote Zora» von Kurt Held las ich gerne, als es anspruchsvoller wurde. Am meisten geprägt haben mich jedoch die Geschichten meines Vaters.

Was waren das für Geschichten?

Das waren selbst erfundene Geschichten zum Beispiel vom Lupo Lupone, also vom Wolf und von einem Häsli. Als Kind fand ich das wahnsinnig lustig.

Sie schreiben selbst Kinderbücher. Wie gehen Sie vor?

Ich schreibe nicht gezielt für Kinder mit Leseschwäche, trage aber dem veränderten Leseverhalten Rechnung. Kinder brauchen Texte, die sie nicht überfordern, sondern motivieren. Deshalb sind heute nicht nur die Bücher, sondern auch die Kapitel kürzer – besonders bei Titeln ab sieben bis acht Jahren. Auch die Absätze sind klarer gesetzt, damit sich die Kinder im Text orientieren können. Wenn sie ein Kapitel bewältigen und kleine Erfolgserlebnisse haben, stärkt das ihre Leselust. Die Sätze sind kürzer, weniger verschachtelt, rhythmisiert. Ich schreibe so, dass mit wenigen Pinselstrichen Bilder entstehen.

Apropos Bild: Wie wichtig sind Illustrationen bei Erstlesetexten?

Illustrationen haben stark an Bedeutung gewonnen. Kinder, oft sogar bis zur sechsten Klasse, greifen eher zu illustrierten Büchern. Die Bilder geben dem Text Rhythmus und bieten ihm visuelle Anker.

Stoppen die Bilder im Buch nicht das eigene Kopfkino?

Nein. Das Kopfkino setzt beim Lesen erst ein, wenn Kinder rund 140 Wörter pro Minute lesen. Wer gerade erst lesen lernt, ist jedoch vor allem damit beschäftigt, die Wörter zu entziffern und der Geschichte zu folgen. Daher bremsen Illustrationen in einem Erstlesebuch die Fantasie nicht. Im Gegenteil.

Bis der Lesefluss einsetzt, dauert es also einen Moment. Wie hält man die Kinder bei Laune, bis sie so weit sind?

Durch Erfolgserlebnisse und Freude. Beides müssen wir ihnen ermöglichen, denn nur darauf lässt sich aufbauen.

Und konkret?

Je vielfältiger man fördert, desto eher finden Kinder Zugang zum Lesen. Interaktive und abwechslungsreiche Methoden sind der Schlüssel. Über das Gelesene sprechen, Figuren beschreiben, Fragen beantworten oder Szenen nachspielen: So wird Lesen lebendig. Geschichten sollen sinnlich erlebbar werden, etwa durch Rollenspiele, Bastelarbeiten, Lesenächte oder Lesungen. Solche Momente schaffen Nähe und halten die Freude und das Interesse am Lesen wach.

Autor
Mirja Keller

Datum

23.12.2025

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