Laufbahnentscheide und Anforderungsprofile

In der Selektion ist das Tessin ein Sonderfall

Übertrittsverfahren in die Sekundarschule unterscheiden sich von Kanton zu Kanton, ebenso die Organisation der Oberstufen. Besonders das Tessin sticht dabei ins Auge. Von Kritikerinnen und Kritikern der Selektion wird es als Vorbild gesehen.

Leichtathletik-Laufbahnen mit einer Abzweigung
Am Ende der Primarschule teilen sich in der Schweiz die Laufbahnen der Schülerinnen und Schüler nach Anforderungsprofilen auf. Foto: iStock/_jure

Nach der sechsten Klasse wechseln Schülerinnen und Schüler in die Oberstufe. Das ist seit der Harmonisierung der obligatorischen Volksschule in der Schweiz (Harmos) so. Aber eben nicht ganz: Ein Kanton schert aus, das Tessin. Vollends bröckelt das einheitliche Bild nach einem genauen Blick auf die Übertrittsverfahren und der Organisation der Oberstufe.

Unter Pädagoginnen und Pädagogen ist umstritten, ob die frühe Selektion gut ist.

Insgesamt lässt sich jedoch sagen: Die Schweiz gehört zu jenen Ländern, in denen relativ früh selektioniert wird. Unter Pädagoginnen und Pädagogen ist umstritten, ob dies gut ist. Eine Mehrheit der Schulleiterinnen und Schulleiter ist gemäss deren Verband für eine Verlegung der Selektion ans Ende der obligatorischen Schulzeit.

Grosse kantonale Unterschiede

Doch auf welche Basis beziehen sich die Schulleitungen? Die Unterschiede zwischen den kantonalen Systemen sind ziemlich gross, wie das Bundesamt für Statistik festhält. Es kann deshalb die Situation auf der Sekundarstufe I nur vereinfacht darstellen. In einer dieser Zusammenstellungen ist zu sehen, dass der Anteil jener Schulkinder, die einer Klasse mit Grundansprüchen zugeteilt sind, im Wallis am höchsten ist.

Am tiefsten ist er im Kanton Luzern. Nicht zu erkennen ist, wie der Bereich mit den erweiterten Ansprüchen organisiert ist. Dort gibt es Kantone mit Langzeitgymnasien; in vielen sind die Klassen klar nach Leistungsniveau getrennt. Einige lassen es den Schulgemeinden offen, wie sie ihre Oberstufen organisieren wollen. Sie können zwischen getrennten oder niveaudurchmischten Klassen wählen.

BILDUNG SCHWEIZ hat sich die Modelle dreier Kantone von deren Volksschulämtern erläutern lassen. Eines davon ist die traditionell organisierte Oberstufe im Kanton Baselland, dann die sehr heterogene Oberstufe Luzerns und schliesslich jene im Tessin, die für Schweizer Verhältnisse aus dem Rahmen fällt.

Bruno Lüthy, Leiter des Amts für Volksschulen im Kanton Basel-Landschaft, bestätigt zwar, dass sein Kanton eine traditionelle Organisation mit drei Leistungszügen kennt. Für das Übertrittsverfahren lässt er diese Bezeichnung aber nicht gelten. Denn dieses baue auf einer Gesamtbeurteilung auf, in die schulische Leistungen, das Arbeits- und Lernverhalten, Sozialverhalten sowie der Entwicklungsstand einfliessen würden. Die meisten Schulkinder würden dann basierend auf einer Empfehlung der Lehrpersonen einem Leistungsniveau zugeteilt.

In Basel-Stadt ist dies anders. Dort gilt ein komplexes Punktesystem, das auf Noten aufbaut. Je nach Fach gelten diese einfach bis dreifach. Je nach Punktzahl erfolgt dann die Zuteilung in einen der drei Leistungszüge. Im Kanton Basel-Landschaft sind es ebenfalls drei. Unterrichtet wird in separaten Klassen, aber alle befinden sich im selben Schulhaus. Grundsätzlich sind die Niveaus durchlässig. Zu den Niveauwechseln gibt es aber keine kantonalen Zahlen. Schweizweit lagen sie im Schuljahr 2019/2020 gemäss Bildungsbericht 2023 bei «nur gerade 3,5 Prozent».

Wie in Baselland basiert im Kanton Luzern die Zuteilung in ein Leistungsniveau auf einer Empfehlung der Lehrpersonen. Jedes dritte Kind kommt dann aber im Unterschied zu Baselland in einer niveaudurchmischten Klasse unter. Die Gemeinden können unter drei Modellen auswählen, wovon die beschriebene integrierte Oberstufe eines ist, wie eine Nachfrage beim dortigen Volksschulamt ergibt.

Es sei möglich, nach der Zuteilung die Stufe zu wechseln. In der Realität finde dies aber vor allem nach unten statt. Knapp 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler gehen in Luzern einen Weg, den es in Baselland gar nicht gibt: Sie machen das Langzeitgymnasium.

Im Tessin gelten andere Regeln

Bleibt der Sonderfall Tessin: Dieser geht auf die 1970er-Jahre zurück. Damals wurde das Schulsystem reformpädagogisch umgestaltet, inspiriert vom Nachbarn Italien. Der Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe findet bereits nach der fünften Klasse statt. Dieser ist aber nicht von einem Selektionsverfahren begleitet. Die Oberstufe ist weiterhin durchmischt. Erst in den letzten beiden Schuljahren wird in den Fächern Mathematik und Deutsch in nach Niveau getrennten Gruppen gefördert.

Allerdings könnte auch das bald der Vergangenheit angehören. Seit letztem Schuljahr läuft im Tessin ein Schulversuch ohne Leistungsgruppen, wie Emanuele Berger, Direktor des Tessiner Volksschulamts, auf Anfrage erklärt. Lehrpersonen planen darin gemeinsam eine differenzierte Förderung. Schülerinnen und Schüler gehen in einer gemeinsamen Klasse einen auf sie abgestimmten Weg. Bewähre sich dieser Versuch, solle die Oberstufe künftig ohne formale Selektion auskommen, so Berger.

Wichtig für das Gesamtbild ist ein Blick über das Ende der Schulzeit hinaus: Wer im Kanton Tessin die obligatorische Schule verlässt, kommt in einer anderen Welt an als in der Deutschschweiz. Der Anteil schulischer Ausbildungen ist deutlich höher. Die Quote der gymnasialen Maturität liegt bei über 33 Prozent. Fasst man alle drei Maturitätsabschlüsse zusammen, ist das Tessin Spitzenreiter.

Selbst bei den Berufslehren wird mehr als jede dritte an einer Vollzeitberufsschule absolviert. Das Tessin unterscheidet sich auch in der Zeit vor dem Schuleintritt. Seit Langem besucht ein Grossteil der Kinder den ganztägigen Kindergarten, viele schon ab dem dritten Lebensjahr.

«Wir sind fest davon überzeugt, dass alle Kinder das Recht auf eine qualitativ hochwertige Bildung haben.»

Gegnerinnen und Gegner der Selektion sehen das Tessin als Vorbild. Emanuele Berger wird von ihnen zu Referaten eingeladen wie kürzlich in Bern oder Zürich. Auf Nachfrage betont er: «Wir sind fest davon überzeugt, dass alle Kinder das Recht auf eine qualitativ hochwertige Bildung haben.» Individuelle Unterschiede liessen sich in einem integrativen schulischen Umfeld auffangen und würden sich sogar als positiv erweisen.

Selektion oder zu wenig Frühförderung?

Tatsache ist, dass bei der Aufteilung in Leistungszüge Knaben und vor allem Kinder ausländischer Eltern deutlich häufiger in den tiefsten Niveaus landen. Dies fördert eine Auswertung des Bundesamts für Statistik zutage.

Darauf angesprochen gibt Bruno Lüthy zu bedenken: Ob die Abschaffung der Selektion die richtige Massnahme für eine chancengerechtere Förderung wäre, müsste man zuerst untersuchen. Plausibler scheint ihm, dass es an der Förderung vor dem Schuleintritt liege. Starteten Kinder mit einem Rückstand, sei dieser oft bis zum Schluss der Schulzeit ein Handicap. Bevor man über Strukturen rede, sollte man darum zuest eine inhaltliche Diskussion führen.

Einen übergeordneten Blick über die kantonalen Organisationssysteme ist dem Bildungssoziologen Thomas Meyer zuzutrauen. Er war bis diesen Sommer Co-Leiter der Tree-Studie, die seit 2001 die Bildungskarrieren Jugendlicher von der Schulzeit bis ins Berufsleben analysiert.

«Wenn man den Einfluss der sozialen Herkunft maximieren will, muss man es wie Zürich machen.»

Tatsächlich machten kantonale Unterschiede das Vergleichen anspruchsvoll, räumt er ein. Etwas lasse sich aber sagen: Bis jetzt würden alle Kantone eine Selektion innerhalb der Volksschulzeit kennen. Die Durchlässigkeit zwischen den Leistungsniveaus sei zudem äusserst gering. Insgesamt verstärke dies den sozialen Einfluss auf den Bildungsweg. Das bestätigten die Resultate der Tree-Studie, sagt er und doppelt nach: «Wenn man den Einfluss der sozialen Herkunft maximieren will, muss man es wie Zürich machen.»

Dort kämpfen viele Eltern darum, dass ihre Kinder es nach der sechsten Klasse ans Langzeitgymnasium schaffen. Knapp jedes dritte Kind eines Jahrgangs geht an die Prüfung. Rund jedes siebte eines Jahrgangs wird dann aufgenommen, ähnlich viele wie in Luzern.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

03.12.2024

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