PÄDAGOGIK

Im eigenen Tempo lernen und weiterkommen

Die Realschülerinnen und -schüler von Géraldine Eliasson bestimmen meist selbst, wann sie welchen Stoff lernen. Das Resultat: Zufriedenheit, aber auch viel Arbeit für die Lehrerin.

Junge steht vor einer Wand, die mit Wolken aus Papier.
Bei der Methode von Géraldine Eliasson spielt die Wolkenwand eine grosse Rolle. Schüler Arda weiss dies genau. Fotos: Roland Schaller

Zwischen zehn und zwölf Uhr ist Lela. So nennt die Oberstufenlehrerin Géraldine Eliasson jene Lektionen im Stundenplan, die ihre Schülerinnen und Schüler selbstständig bestreiten. Im Klassenzimmer sieht das dann so aus: Aleandro arbeitet am Mathedossier über Zeit und Geschwindigkeit. Er schätzt, dass er dafür noch zwei Wochen braucht, bis er das Thema mit einem Test, dem sogenannten Beurteilungsanlass, abschliessen kann.

Ausserdem will Aleandro heute noch in einem Roman weiterlesen. In einer Woche will er dazu ein Fazit in sein Lesetagebuch schreiben. Diese Art des Unterrichts gefällt ihm. «Früher wurde es mir immer langweilig, wenn ich mit einer Klassenaufgabe früh fertig war. Heute kann ich mich einfach einer neuen Aufgabe widmen, ohne auf die anderen warten zu müssen», sagt Aleandro.

Sechs Bücher pro Jahr

Lorena arbeitet ebenfalls an einem Mathedossier. Sie beschäftigt sich allerdings mit Leasing und Krediten. In zwei Tagen will sie den dazugehörigen Test schreiben. Bei der Lektüre ihres Buches muss sie Gas geben, um auf die geforderten sechs Bücher pro Jahr zu kommen. Trotzdem: «Mir gefällt diese Art des Lernens. Ich habe viel weniger Stress als früher, weil ich in meinem eigenen Tempo arbeiten kann.» Ähnlich unterwegs ist Sebastian. Auch er liest ein Buch und erarbeitet sich das Thema Leasing. Er ist zufrieden mit dieser Art des Unterrichts. In seiner früheren Klasse hätten sie häufig Blödsinn gemacht und es sei oft laut gewesen. «Hier arbeiten alle konzentriert an ihren Aufgaben», sagt Sebastian.

Das Lela-Universum

Aleandro, Lorena und Sebastian besuchen die dritte Realklasse von Eliasson der Schule Neuenhof im Kanton Aargau. Wie schafft es die Lehrerin, dass ihre Schülerinnen und Schüler auch im dritten Realjahr noch so motiviert mitmachen? Dahinter steckt ein langer Prozess: «Vor 16 Jahren habe ich meinen Unterricht vollständig umgekrempelt und seither immer wieder optimiert», erzählt Eliasson. Ein Rundblick durchs Klassenzimmer zeigt die zentralen Elemente ihres Lela-Modells, das unter anderem auf dem Konzept der Lernlandschaften basiert. Darum auch der Name.

Lernen braucht Raumgestaltung

Insgesamt zehn Lektionen pro Woche verbringen die Schülerinnen mit Lela. Dafür werden die in Vierergruppen angeordneten Pulte mit selbst gezimmerten Holzelementen zu Lernkojen umgebaut. Hier können die Jugendlichen an ihren Dossiers arbeiten. Gegenseitige Hilfe ist erlaubt und erwünscht. Aleandro beispielsweise ist in Mathe mit seinen Dossiers schon sehr weit. Deshalb unterstützt er langsamere Kameradinnen und Kameraden bei der Arbeit.

«Ich habe weniger Stress, weil ich in meinem eigenen Tempo arbeiten kann.»

Inputsequenzen finden vorne an der Tafel oder am Whiteboard statt. Eliasson holt jeweils zwei, drei Jugendliche, die am gleichen Dossier arbeiten, und erklärt ihnen beispielsweise einen Lösungsweg. «Zu Beginn dachte ich, dass ich einen separaten Unterrichtsraum dafür benötige», sagt Eliasson, «unterdessen finde ich diese Konstellation mit den Kleingruppen sehr gut. Die Nähe macht das Unterrichten viel persönlicher.»

Die Schülerinnen und Schüler arbeiten mit den Tablets an ihren Dossiers. Auf dem gemeinsamen Notiz-Tool One-Note sind Lehrplaninhalte für Mathematik, Deutsch und Englisch zu Dossiers mit Lernzielen, Theorie und Aufgaben zusammengestellt. An einer Pinnwand hinter dem Lehrerinnenpult hängen kleine Papierwolken, auf denen jeweils ein Dossiernamen steht. Wer ein Dossier samt Beurteilungsanlass abschliesst, trägt seinen Namen auf der entsprechenden Wolke ein.

Lernen ohne Termin

Wegen der freien Aufgabenwahl und dem Arbeiten im eigenen Tempo kommen die Jugendlichen unterschiedlich schnell voran. Der Unterschied in Sachen Lernfortschritt beträgt bis zu einem halben Jahr. Es komme nur selten vor, dass sie Einzelnen Vorgaben macht, ein Dossier bis zu einem bestimmten Termin fertigzustellen, sagt Eliasson. Denn alle Schülerinnen und Schüler müssen die Grundanforderungen erreichen. Kommuniziert wird im Klassenchat – auch während des Unterrichts. «So müssen sich die Jugendlichen zuerst überlegen, was sie von mir wissen wollen und die Frage entsprechend formulieren, das ist eine ausgezeichnete Übung», sagt sie dazu. Das aufgeregt gerufene «Sie» entfällt. In der Lela ist es ausgesprochen ruhig.

Spicken? Kein Thema!

An schmalen Plätzen entlang der Fensterfront schreiben die Schülerinnen und Schüler ihre halbstündigen Beurteilungsanlässe. Gemeinsame Prüfungen existieren im Lela-Modell nicht. Sobald eine Schülerin ihr Dossier beendet hat, meldet sie das der Lehrerin und schreibt den Test. «Der Blick nach draussen hilft meinen Jugendlichen, sich zu konzentrieren», sagt Eliasson. Und wie steht es mit dem Spicken? «Bei uns kein Thema», sagen die Jugendlichen.

«Bei uns gibt es keinen Stress und keinen Wettkampf. Im Gegenteil: Wir unterstützen einander.»

Alle sieben Wochen bricht die Klasse aus dem üblichen Trott aus: Zeit für eine Intensivwoche mit nur einem einzigen Thema. Dann bündelt Eliasson die Lektionen aus den in der Lela vernachlässigten Fächern «Räume, Zeiten, Gesellschaften» sowie «Naturwissenschaft und Technik». Vor Kurzem ging es zum Beispiel um Genetik. Einzig Französisch unterrichtet Eliasson «traditionell». Das Fach, so die Lehrerin, sei schlicht zu anspruchsvoll.

Brennende Schulhefte

Eliasson arbeitet seit 24 Jahren auf der Sekundarstufe. Nach ihrem ersten Klassenzug hatte sie beobachtet, wie die Jugendlichen ihre Schulhefte auf dem Pausenplatz verbrannten. «Das hat mich erschüttert», erinnert sie sich. Deshalb machte sie sich auf die Suche nach alternativen Unterrichtsmodellen.

Eliassons Lela-Modell ist eine Mischung aus verschiedenen pädagogischen Konzepten wie der Lernlandschaft oder dem selbstregulierten und selbstorganisierten Lernen. Allerdings gezielt auf die räumlichen und finanziellen Verhältnisse ihrer Schule zugeschnitten. Die Arbeit an den Dossiers und die Beurteilungsanlässe nennt sie auch Lernprodukte. Am Ende der Realschule können die Jugendlichen ihre Lernprodukte mitnehmen und sind so gut gerüstet für das weitere Lernen in der Berufsschule.

Lernen statt Wettkampf

Beim traditionellen Unterricht, bei dem die ganze Klasse am selben Thema arbeitet und dann eine Prüfung ablegt, würden immer dieselben gewinnen oder verlieren, sagt Eliasson. Viele ihrer Realschülerinnen und -schüler hätten erlebt, dass sie zu den Schwachen gehören und nicht mitkamen.

«Auch ich selbst war damit unzufrieden», erinnert sie sich. So wurde das eigene Lerntempo zum zentralen Element ihres Modells. «Bei uns gibt es keinen Stress und keinen Wettkampf, wer besser oder schneller ist. Im Gegenteil: Wir helfen und unterstützen einander.»

Lela bedeutet auch Aufwand

Im Lela-Modell steckt viel Arbeit, keine Frage. Auch heute noch überarbeitet Eliasson ihre Dossiers alle drei Jahre. Was motiviert die engagierte Lehrerin? «Ich bin viel zufriedener, und ich merke auch, wie die Schülerinnen und Schüler zufriedener sind. Und was wir machen, ist nachhaltig.» Wer die Jugendlichen in ihren Kojen ruhig und konzentriert lernen sieht, mag sich fragen: Wo bleibt der Klassengeist? Doch diesen Einwand lassen Aleandro, Lorena und Sebastian nicht gelten. «Wir machen viele Ausflüge und haben dabei unseren Spass», erzählen sie.

Autor
Roland Schaller

Datum

17.06.2025

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