Alleine oder im Team lernen

Gruppenarbeit ersetzt die Einzelarbeit nicht

Das Arbeiten in der Gruppe kann für Schülerinnen und Schüler bereichernd sein. Das ist aber nicht immer so. Eine Dozentin und eine Lehrerin erläutern, wann das gemeinsame Arbeiten Sinn macht und wann ein Kind auch einmal für sich arbeiten soll.

Ein Kind sitzt an einem Tisch und schreibt oder zeichnet etwas auf ein Blatt Papier.
Ein Kind, das allein arbeitet, wird weniger abgelenkt und lernt, sich Wissen selbstständig anzueignen. Foto:iStock/milanvirijevic

Roli soll zusammen mit drei Mitschülerinnen und Mitschülern Matheaufgaben lösen. Die drei anderen Kinder scheinen alles problemlos zu begreifen, sprechen über das Rechenproblem, notieren die Lösung und nehmen sich der nächsten Aufgabe an. Roli geht es zu schnell. Deshalb schreibt er nur die Lösungen auf, versteht sie aber nicht. Er getraut sich nicht, seine Schwierigkeiten bei den selbstbewussten Kindern anzusprechen.

Das Arbeiten und Lernen im Team respektive in der Gruppe kann herausfordernd sein. Während Teamwork in der Geschäftswelt manchmal als die Antwort auf jedes Problem hingestellt wird, kann die Realität sowohl im Geschäfts- als auch im Schulalltag anders aussehen. Zum Beispiel lernen einige Kinder bei bestimmten Themen nicht so schnell wie andere, wie es beim fiktiven Schüler Roli der Fall ist. Wann ist Gruppenarbeit überhaupt angebracht?

Gruppenarbeit muss man können

Bevor Kinder gemeinsam Aufgaben lösen sollen, sollten sie das Arbeiten in der Gruppe überhaupt erst erlernen, sagt Dozentin Katrin Graber vom Institut pädagogische Psychologie der pädagogischen Hochschule (PH) St. Gallen. Viele Lehrpersonen setzen diese Fähigkeit nämlich einfach voraus.

Grundsätzlich kann die Gruppenarbeit gemäss Graber dabei helfen, dass die Schülerinnen und Schüler etwas im Bereich der sozialen Kompetenzen lernen. Bei neuen Klassen kann sie gerade in der frühen Phase auch den Zusammenhalt stärken. Beim Lernen kann eine Gruppe ebenfalls hilfreich sein. Als Faustregel, wann eine Gruppenarbeit angezeigt ist, formuliert die Dozentin: «Das gemeinsame Resultat sollte besser sein, als wenn alle einzeln arbeiten.» Im Zentrum stehe immer die Frage, wie die Kinder am besten zu einem vertieften Denken angeregt werden: alleine oder in der Gruppe?

«In Gruppen organisieren sich die Kinder selbst und nehmen unterschiedliche Rollen ein.»

Mit dieser Frage setzt sich auch Andrea Schafflützel auseinander. Sie unterrichtet an der Schule Gaiserwald im Kanton St. Gallen. Für Gruppenarbeiten sprechen bei ihr ebenfalls die sozialen Kompetenzen, die dabei erworben werden. «In Gruppen organisieren sich die Kinder selbst und nehmen oft unbewusst unterschiedliche Rollen ein», sagt die Lehrerin. Ein Kind übernehme oft die Führung, während ein anderes etwa darauf achte, dass die Regeln eingehalten werden. Die Rollenverteilung ändere sich je nach Gruppenzusammensetzung, was den Kindern dabei helfe, ihre sozialen Kompetenzen kontinuierlich zu verbessern.

Ein weiterer grosser Vorteil sei auch die gegenseitige Unterstützung der Kinder: «Sie erklären einander die Regeln, helfen sich bei Schwierigkeiten und fördern so ein kooperatives Lernumfeld», sagt Schafflützel. Dabei gäben sie sich ein ehrliches und konstruktives Feedback. Das helfe nicht nur beim Lernen, sondern stärke auch das Gemeinschaftsgefühl. Schliesslich könne die Zusammenarbeit die Motivation steigern, da sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig anspornten.

Die PH-Dozentin Graber sagt ergänzend: Man erlebe zusammen mehr, lache vielleicht gemeinsam und versuche, unterschiedlichen Meinungen mit Kompromissen zu begegnen. Sei die Dynamik in einer Gruppe gut, könne das für das Lernen förderlich sein – besonders, wenn man zusammen handlungsorientiert lerne, zum Beispiel draussen in der Natur oder an besonderen Schauplätzen.

Manchmal ist alleine besser

Doch es gibt eben Situationen, in denen Kinder allein produktiver arbeiten. Manchmal kann ein bestimmtes Kind sich selbst am besten vorwärtsbringen, so Graber. Auch können beim gemeinsamen Arbeiten negative Effekte auftreten: «Dabei geht es im Kern immer darum, dass man sich gegenseitig beeinflusst und somit entweder selber weniger eigenständig denkt oder im schlimmsten Fall auch Trittbrett fährt», erläutert die Dozentin. «Ist Letzteres der Fall, hängt man sich beim Lernen den anderen an und ist selbst kaum mehr aktiv – was im Endeffekt dazu führt, dass man weniger lernt.» Ein weiterer Vorteil der Einzelarbeit könne auch weniger Ablenkung sein. Das verbessere und verlängere je nachdem die Konzentrationsphasen.

Schafflützel schätzt Einzelarbeit vor allem dann nützlich ein, wenn bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse wie das Einmaleins oder Hör- und Textverständnis selbstständig erworben werden sollen. Besonders wenn die Lehrerin der Klasse neuen Stoff vermittelt hat, ist es ihr wichtig, dass die Kinder das neu Gelernte zunächst selbstständig anwenden. So können sie selbst prüfen, ob sie das Gehörte verstanden haben. Das fördere ihre Selbstreflexion, so Schafflützel. Wertvoll sei Einzelarbeit zudem, wenn die Repetition von Stoff auf dem Programm stehe. Jedes Kind könne dann im eigenen Tempo und ohne Druck üben. «Dies ermöglicht es ihnen, sich intensiver mit den Inhalten auseinanderzusetzen, individuelle Stärken und Schwächen zu erkennen und gezielt daran zu arbeiten», sagt die Lehrerin. Ausserdem würden durch Einzelarbeit auch die Selbstdisziplin und die Fähigkeit zur Selbstorganisation gefördert.

Kombination ist oft sinnvoll

Mischformen kommen in Schafflützels Unterricht ebenfalls vor, etwa bei Schreibanlässen. «Zu Beginn kann es sinnvoll sein, dass die Schülerinnen ihre Ideen in Gruppen austauschen, um unterschiedliche Perspektiven zu sammeln», meint sie und ergänzt: «Anschliessend wird die Geschichte in Einzelarbeit verfasst, was den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, ihre eigenen Gedanken und Schreibstile zu entwickeln.» Zum Abschluss würden verschiedene Aspekte der Geschichte und des Arbeitsablaufs in der Gruppe besprochen. So würden sowohl die individuelle Kreativität als auch das kollektive Lernen gefördert.

Es gibt auch Situationen, in denen es sinnvoll sein kann, dass einzelne Kinder für sich arbeiten, während andere in Gruppen lernen. Bei Schafflützel kommt dies aber eher selten vor. Sie macht dies zum Beispiel dann, wenn sich eine Gruppe durch ein Kind gestört fühlt. Sie nimmt das Kind dann aus der Gruppe und lässt es fünf Minuten für sich arbeiten. Solche Momente seien wichtig zur Förderung der Sozialkompetenz.

Auch Graber kennt Situationen, in denen eine Mischform zwischen Gruppen- und Einzelunterricht Sinn macht. Das gilt zum Beispiel, wenn einige Schülerinnen und Schüler allein besser lernen und arbeiten können. Das gelte insbesondere, wenn sich die Kinder gewohnt seien, selbst zu wählen, wie sie lernen möchten.

«Den Kindern muss Arbeiten in der Gruppe schrittweise beigebracht werden.»

Ein besonderer Fall schildert die Dozentin mit einem introvertierten Kind, das generell lieber alleine arbeitet. Dann sei es sinnvoll, wenn die Lehrperson es dabei unterstütze, ab und zu in einer Gruppe zu lernen. Dafür sollte sie auch die entsprechenden Bedingungen schaffen. Umgekehrt würden sehr soziale Kinder davon profitieren, auch einmal für sich und in Ruhe Lernstoff zu verarbeiten. Wichtig sei bei solchen Interventionen aber stets, wachsam zu sein, damit ein Kind, das oft allein arbeitet, nicht sozial ausgeschlossen werde.

Die Mischung muss stimmen

«Als Fazit gilt, dass ein guter Mix wichtig ist, dass den Kindern das Arbeiten in der Gruppe schrittweise beigebracht wird und dass passende Aufgabenstellungen ausgewählt werden», hält Graber fest. Letzteres könne aber eine Herausforderung sein. Denn das Arbeiten in der Gruppe sollte, wie bereits erwähnt, gegenüber der Einzelarbeit einen Mehrwert bieten. Diesen zu bestimmen, sei meist schwierig. Darum werde oft der Einzelarbeit der Vorzug gegeben. Insgesamt sei Gruppenarbeit eine anspruchsvolle Aufgabe für Lehrpersonen. Das beginne mit der Begleitung der Gruppe bis hin zur abschliessenden Beurteilung der Resultate. Bei der Rückmeldung empfiehlt Graber, nicht nur das Ergebnis zu besprechen, sondern auch die Arbeitsprozesse in der Gruppe.

Schafflützel wiederum findet die Gruppenarbeiten in ihrem Unterricht sehr wichtig. «Dabei wird eine Vielzahl von Kompetenzen gestärkt, die sowohl für das Lernen als auch für die persönliche und soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler von Bedeutung sind», sagt sie dazu. Kritisches Denken gehöre dazu. Kinder nähmen in der Gruppe verschiedene Rollen ein, äusserten unterschiedliche Meinungen oder zeigten Empathie füreinander. Gleichzeitig würden auch die Selbstständigkeit, Selbstreflexion und Feedbackkultur geschult.

Was nun das Beispiel von Roli betrifft, hätte es vielleicht bereits geholfen, wenn die Kinder zuvor gelernt hätten, wie Gruppenarbeit funktioniert. Die schnellen Schulkinder hätten dann vielleicht mehr darauf geachtet, dass auch Roli alles versteht. Oder Roli hätte gewusst, dass er keine Angst haben muss, seine Schwierigkeiten anzusprechen.

Autor
Kevin Fischer

Datum

14.02.2025

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