BLOSS EIN NEBENFACH?

Gestalten ist mehr als das Üben handwerklicher Fähigkeiten

Mit Design- und Gestaltungsprozessen lässt sich viel mehr lernen als Gestaltungstechniken. Ein Unterrichtsbesuch und das Gespräch mit Fachpersonen zeigt, wohin sich die Fächer entwickeln könnten und wo die Hindernisse liegen.

Der Jugendliche arbeitet hochkonzentriert.
Luan näht sich auf der Basis von eigenen Plänen einen Spongebob als Kuscheltier. Fotos: Marion Bernet

Uettligen bei Bern liegt an diesem Vormittag im dichten Nebel. Im Oberstufenschulhaus im Dorf brennen die Lichter. Im Raum für textiles Gestalten im Untergeschoss arbeiten die Schülerinnen und Schüler der gemischten Real- und Sekundarklasse 7a an ihrem Projekt – einem Kuscheltier. Luan hat auf seinem Arbeitstisch gelbe Stoffbahnen ausgelegt, deren Längen und Breiten er misst. In seinem Logbuch, das aufgeschlagen daneben liegt, hat er fein säuberlich auf den Millimeter genau die Pläne für sein Kuschelobjekt eingetragen. Er möchte die Trickfilmfigur Spongebob nähen. Der Schwammkopf soll 50 Zentimeter gross werden.

«Wenn ich die Dinge auf meine Art und Weise machen kann, kommt es besser heraus.»

«Die Proportionen von Spongebob habe ich auf meine eigene Art berechnet», sagt Luan und zeigt auf die Pläne. «Die Kollegen neben mir machen für ihr Tier noch ein Schnittmuster, aber das ist mir zu kompliziert», erklärt er weiter. Luan will die Dinge spontan ändern können. Die Schnittmustervorgabe wäre ihm deshalb zu starr. Ein bisschen angeleitet zu werden, findet er gut. «Aber wenn ich die Dinge auf meine Art und Weise machen kann, kommt es besser heraus», meint Luan. Am Ende zähle ja, ob man das Ziel der Aufgabe erreicht habe.

Anaëlle und Kintana arbeiten in der Tischreihe vor Luan. Sie haben sich entschieden, einen Hasen zu nähen. In ihrem Logbuch haben sie die einzelnen Arbeitsschritte ebenfalls detailliert festgehalten. Den Hasen haben sie gemeinsam entworfen. Er wird grosse Ohren haben und mit dem Plotter angefertigte Augen. «Wir sind Freundinnen, deshalb arbeiten wir zusammen», erklären die beiden. Die Kuscheltieraufgabe ist zwar nicht als Gruppenarbeit angelegt, dennoch arbeiten auch andere Jugendliche zusammen. Hinten im Textilraum schneidern zwei Mädchen gemeinsam je einen Delfin, und eine Bubengruppe hat sich entschlossen, anstelle eines Kuscheltiers je ein Lebensmittel zu nähen: So entstehen eine Plüschpizza, ein Hotdog und ein Hamburger aus Stoff.

Einen Plan umsetzen lernen

Die Verwirklichung der Pläne für das Kuscheltier fällt nicht allen gleich leicht. Nötig ist eine gut ausgebildete Vorstellungskraft. Der Plan ist zweidimensional, die Arbeit dann aber dreidimensional. Und es braucht gute mathematische Kenntnisse, um die Längenverhältnisse massstabgetreu abbilden zu können. Kurzum: Das Nähen des Kuscheltiers ist eine komplexe Lernangelegenheit, in der fachliche und überfachliche Kompetenzen geübt werden. «Die Umsetzung einer textilen Aufgabe ist eine wahnsinnige Leistung», sagt Tamara Hauser. Sie unterrichtet das Fach textiles und technisches Gestalten.

Denn in diesem Fach sind mathematische Kenntnisse genauso nötig wie sprachliche Fähig- und Fertigkeiten. Der Gestaltungsunterricht mit seinen vielfältigen Möglichkeiten ist deshalb eine ideale Übungsanlage, um breite, fachliche Kompetenzen zu festigen und zu fördern. Davon ist Hauser überzeugt.

«Die Umsetzung einer textilen Aufgabe ist eine wahnsinnige Leistung.»

Im Gestaltungsunterricht zeigt sich auch das individuelle Arbeitsverhalten. «Die Kinder dieser Klasse arbeiten bereits sehr selbständig. Man merkt, dass die Selbständigkeit in den vorangehenden Schuljahren gezielt aufgebaut worden ist», sagt Hauser. Dies sei längstens nicht bei allen Klassen der Fall. «Es gibt solche, die man viel enger begleiten und konkreter anleiten muss.» Gestaltungsfächer seien ein sehr gutes Übungsfeld für selbständiges Arbeiten.

Man hilft sich gegenseitig

Hauser geht zwischen den Pultreihen hin und her. Hier haben Schülerinnen eine Frage und da brauchen Schüler ihre Hilfe – oder auch nur einen Tipp, wie sich etwas einfacher berechnen oder umsetzen liesse. Die Jugendlichen unterstützen sich aber auch gegenseitig und üben sich so spielerisch in Teamarbeit und Kommunikation.

Einsatz für den Gestaltungsunterricht

In den Design- und Gestaltungsprozessen verstecken sich also viele Lerngelegenheiten, die sich nicht nur auf das Einüben bestimmter Gestaltungstechniken beschränken. Und doch ist der Gestaltungsunterricht nach wie vor ein Nebenfach. Manchmal spürt Hauser das an der Haltung gegenüber ihrem Fach: «Es gibt Schülerinnen und Schüler, die kommen in den Unterricht, um einfach ein bisschen zu nähen.» Und obwohl sich das Fach ausgezeichnet für eine fächerübergreifende Zusammenarbeit mit anderen Lehrpersonen eignen würde, sei das Interesse daran eher gering. «Alle sind mit ihrem eigenen Fach genug beschäftigt.»

Nicht nur Hauser wünscht sich Wertschätzung und Zusammenarbeit. Auch die Fachdidaktikerin Verena Widmaier spricht von ungenutztem Potenzial. Sie engagiert sich in der Fachkommission Gestaltung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) für den Gestaltungsunterricht: «Die gestalterischen Fächer tragen sehr viel zur Bildung bei und sind prädestiniert für die Förderung der überfachlichen Kompetenzen», sagt Widmaier. «Wer sich in seiner Ausbildung mit Gestaltung und Kunst befasst hat, könnte deshalb die Welt retten», ist Widmaier überzeugt. Doch es mangle an der Einsicht, wie wichtig die gestalterischen Fächer seien, um sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. «Das gesellschaftliche Moment steht nicht auf unserer Seite. Kunst gilt als elitär.» Auch Schulleitungen und Kolleginnen und Kollegen würden oft nicht sehen, was in diesen Fächern geleistet werde und wie hoch die Unterrichtsqualität sei.

In der Ausbildung ist Gestalten bloss ein Nebenfach

Der Lehrpersonenmangel und die fächerorientierte Ausbildung an den pädagogischen Hochschulen (PH) verschärfe diese Problematik noch, fährt die ehemalige PH-Dozentin fort. Nicht immer sei an der PH eine vertiefte Ausbildung in den gestalterischen Fächern möglich: «Gestalten ist einfach eines von mehreren Fächern, das später unterrichtet werden kann. An Schulen werden oft fachfremde Personen für den Gestaltungsunterricht eingesetzt», stellt Widmaier fest. Kinder und Jugendliche, die später einen gestalterischen Beruf wählten oder Architektur, Kunstgeschichte oder Kulturwissenschaften studieren wollten, erhielten in der Volksschule zu wenig Grundlagen vermittelt im Kunst- und Designbereich.

«Es ist nicht egal, wer Gestalten unterrichtet.»

Eltern, die laut Widmaier feststellen, dass ihre Kinder im gestalterischen Bereich nicht auf ihre Rechnung kommen, verlagern das Gestalten deshalb in den Freizeitbereich. Im Kanton Zürich haben Schulen aus all diesen Gründen mittlerweile begonnen, Dienstleistungen bei Künstlerinnen und Künstlern einzukaufen. «Das ist auch ein Weg, wie man Schülerinnen und Schülern Kunst vermitteln kann», findet Widmaier. Besser wäre es aber, wenn eine klare Profilierung der Ausbildung für angehende Lehrpersonen erwogen würde. Denn: «Es ist nicht egal, wer Gestalten unterrichtet.»

Die Fachkommission Gestalten des LCH erarbeitet nun ein Grundlagenpapier, in dem zentrale Themen, aber auch inhaltliche Aussagen zur Bildung und Ausbildung der Fächer festgehalten werden. Damit soll in einem weiteren Schritt die Position der Fächer und der Lehrpersonen gestärkt werden.

Und auf einmal macht es Freude

In Uettligen geht der Unterricht bei Tamara Hauser nun dem Ende entgegen. Die ersten Stofftiere werden bereits mit Stopfwatte gefüllt. Auch Luan hat die Beine seines Schwammkopfs mit der weissen, feinen Watte ausgestopft. Er ist noch immer mit Eifer bei der Sache. Dabei war textiles Gestalten bis anhin gar nicht so sein Ding: «Ich habe immer gesagt, ich bin nicht für Stoff, sondern nur für Holz gemacht.» Doch jetzt, sagt Luan, sei das anders. «Jetzt geht es ganz gut.»

Autor
Mireille Guggenbühler

Datum

03.01.2025

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