Barrieren

Für ein bisschen mehr Gerechtigkeit

Der Weg ans Gymnasium führt speziell im Kanton Zürich über teure, private Vorbereitungskurse. Weil sich das nicht alle leisten können, hat Rafaela Pastore Lopo als Maturarbeit einen kostenlosen Kurs ins Leben gerufen.

Frau mit dunklen Locken.
Rafaela Pastore Lopo widmete ihre Maturarbeit der Bildungsgerechtigkeit. Fotos: Gion Pfander

Es ist Sonntagmorgen. Viele Jugendliche frönen dem süssen Nichtstun. Rafaela Pastore Lopo jedoch ist schon seit sechs Uhr auf. Sie verbringt den Morgen umzingelt von Kindern und Jugendlichen. In einem Gemeinschaftsraum bietet sie Hausaufgabenhilfe an. Manche Kinder konzentrieren sich auf die Hausaufgaben, andere werfen immer wieder Fragen in die Richtung der 18-Jährigen. «Siiie, stimmt das Resultat?» – «Sie, ich komme hier nicht weiter.» Pastore beantwortet die Fragen geduldig, eine nach der anderen. Manche Antworten sind Gegenfragen. Die Kinder sollen selbst die Lösung finden. Die junge Frau ermutigt die Kinder, das Gelernte in eigene Worte zu fassen: «Erklär mir nochmal die Fotosynthese.» Wo nötig, wiederholt sie die Grundlagen oder ruft zu Ordnung auf, wenn es zu lärmig wird.

Engagement als Maturarbeit

Pastore will nicht Lehrerin werden. «Ich möchte einfach Menschen helfen. Auch beruflich», sagt sie über ihre Zukunftspläne. Die engagierte junge Frau hat im Rahmen ihrer Maturarbeit einen kostenlosen Vorbereitungskurs für die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium entwickelt. Das Interesse daran war so gross, dass daraus ein regelmässiger Nachhilfekurs für alle Stufen wurde. Die Kinder und Jugendlichen wohnen alle in der Genossenschaftssiedlung auf dem Zwicky-Areal, einem Dübendorfer Quartier am Stadtrand von Zürich. Dort leben viele Familien mit niedrigem Einkommen. Nicht alle Eltern können ihren Kindern private Vorbereitungs- oder Nachhilfekurse finanzieren. Darum eignete sich das Quartier besonders für Pastores Projekt.

«Wie kann es fair sein, dass die Zukunft eines Kindes vom Wohlstand der Familie abhängt?»

Im Sommer 2024 hat Pastore den Vorbereitungskurs ins Leben gerufen. Die Idee für ihre Maturarbeit kam ihr an einem Abend bei einem Freiwilligeneinsatz, für Menschen in finanziellen Krisen. «Im Gespräch mit einer netten italienischen Dame erwähnte ich, dass ich am Gymnasium bin. Sie strahlte und gratulierte mir dazu», erzählt sie. Die Dame habe ihr von den geplatzten Träumen ihrer Nichte berichtet, die Meeresbiologin werden wollte, aber an der Gymiprüfung gescheitert sei. Ein privater Vorbereitungskurs, wie sie im Kanton Zürich verbreitet sind, hätte womöglich geholfen. Doch den konnte das Mädchen sich nicht leisten. «Das hat mich traurig und nachdenklich gemacht», erzählt Pastore.

Diese Begegnung brachte sie auf die Idee, eine Maturarbeit über Förderung durch Bildung zu schreiben. Pastore weiss, dass Bildung auch mit Privilegien zusammenhängt. «Wie viele andere Schülerinnen und Schüler am Gymnasium hatte ich die Chance, einen privaten Vorbereitungskurs zu besuchen», sagt sie. «Aber wie kann es fair sein, dass die Zukunft eines Kindes vom Wohlstand der Familie abhängt?», fragt sie im Vorwort ihrer Arbeit.

Berufslehre empfohlen

In ihrer Maturarbeit verweist Pastore auf Zahlen aus dem Kanton Zürich, die zeigen: Je höher das Einkommen der Familie, desto wahrscheinlicher ist der Übertritt ans Gymnasium. Auch aus eigener Erfahrung weiss sie, dass für die schulische Karriere nicht nur Talent und Leistung ausschlaggebend sind. Pastore wuchs zunächst in Portugal und in England auf. Erst im Alter von zwölf Jahren kam sie in die Schweiz. Ohne Kenntnisse der deutschen Sprache und ohne Kenntnisse des hiesigen Schulsystems. «Ich wusste nicht, dass man nur mit der Matur an die Uni kann», erzählt sie.

Nach einem Jahr in einer Integrationsschule kam sie in die Sekundarschule. Dort empfahl man ihr, eine Berufslehre zu machen. «Mein Deutsch war noch nicht so gut. Darum sagten sie, ich solle etwas Praktisches lernen», erzählt Pastore. Sie interessierte sich jedoch für den akademischen Weg, den schon ihre Eltern eingeschlagen hatten. «Ich wollte schon immer wissen, wie alles funktioniert. Darum mag ich auch die Naturwissenschaften», erklärt sie. Heute spricht Pastore fliessend Hochdeutsch mit einem sanften Schweizer Akzent. Man könnte meinen, dass sie jeden Moment in astreines Schweizerdeutsch wechselt.

Die Eltern unterstützten die Ambitionen ihrer Tochter. Pastore besuchte einen Vorbereitungskurs, bestand die Aufnahmeprüfung und schliesslich diesen Sommer ihre Matur am Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium Rämibühl (MNG) in Zürich. Das Gymnasium war für sie also doch der richtige Ort. Das bestätigt die Betreuerin ihrer Maturarbeit, Eliane Suter: «Rafaela ist neugierig.» Und sie habe sich motiviert an die Arbeit gemacht. Suter sah, mit welcher Leidenschaft sich Pastore ihrem Projekt widmete. «Gute Schülerinnen und Schüler wie Rafaela legen sich für die Maturarbeit oft ins Zeug», erzählt sie. Doch für Pastore war es mehr als das. Sie habe auch viel Freizeit in den Kurs investiert. Das sei nicht selbstverständlich.

Zwei Welten in Brasilien

Der praktische Teil der Maturarbeit war für Pastore denn auch mehr als eine schulische Pflicht. Sie hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, den sie schon als Kind zu Besuch bei den Grosseltern in Brasilien entwickelt hat. «Dort sieht man die sozialen Unterschiede noch viel eindeutiger», erzählt sie. «Ich habe da zwei Welten erlebt.» Ihr Vater stamme aus guten Verhältnissen. Die Familie der Mutter lebe allerdings in einem ärmeren Quartier mit niedrigerem Lebensstandard. Das habe sie geprägt: «Ich glaube, mir war schon damals bewusst, dass das nicht gerecht ist.»

«Es macht Spass herauszufinden, wie die Kinder ticken.»

Ungerechtigkeit beschäftigt Pastore, zieht sie aber nicht herunter. Im Gegenteil: Es motiviert sie, sich zu engagieren. Wenn sie erzählt, sprudelt sie vor Energie. Ihre Begeisterung steckt an. So hinterliess sie bei Daniela Wettstein schon beim ersten Treffen, um den Vorbereitungskurs aufzugleisen, einen bleibenden Eindruck. Wettstein unterrichtet am MNG und lebt in der Genossenschaftssiedlung im Zwicky. Sie hat dort den Kontakt zu den Familien hergestellt, deren Kinder nun den Vorbereitungskurs und die Hausaufgabenhilfe besuchen. «Rafaela war von Anfang an hochmotiviert und unkompliziert», erzählt sie. Auch wenn Pastore nicht vorhat, Lehrerin zu werden, die Arbeit mit den Kindern gefällt ihr.

«Die Kinder finden es cool, dass ich nicht aus der Schweiz stamme.»

«Es macht Spass herauszufinden, wie die Kinder ticken. Besonders schön ist es, ihre Fortschritte zu sehen», sagt Pastore. Zum Erfolgsrezept des Kurses hat vieles beigetragen. Pastore hat eine offene, gewinnende Persönlichkeit und gibt sich sichtbar Mühe, auf die Anliegen der Kinder und Jugendlichen einzugehen. Ausserdem erkennen diese sich in Pastore wieder. «Sie finden es cool, dass ich nicht wie die meisten ihrer Lehrpersonen aus der Schweiz stamme», erzählt sie. Ihre Betreuerin sieht das ähnlich: «Rafaela hat durch ihre Herkunft ein besseres Verständnis für die Situation», sagt Suter und weist auf Pastores Talent hin, Lernende zu motivieren: «Mit ihr durften die Kinder und Jugendlichen erleben, wie kompetent sie sind.»

Nachhaltiger Erfolg

Vorgesehen waren ursprünglich sechs Monate Prüfungsvorbereitung. Daraus wurde ein Projekt mit längerer Lebensdauer. Pastore hat dafür den Verein «Lernen im Quartier» gegründet, der das kostenlose Lernangebot finanziert und aufrechterhält. Die Genossenschaft und auch das Gymnasium haben dafür Geld beigesteuert. Allerdings kann Pastore die Sonntagesstunden künftig nicht mehr allein stemmen. Die Prüfungsvorbereitung wird eine Studentin der pädagogischen Hochschule übernehmen. Die Hausaufgabenhilfe gibt Pastore zusammen mit ein paar ETH-Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern des MNG. Sie macht ein Zwischenjahr, in dem sie erst etwas Geld verdienen und danach reisen gehen will. Nächstes Jahr geht sie an die Uni. Pastore überlegt sich, Medizin oder Gesundheitswissenschaften zu studieren – oder vielleicht doch Pädagogik.

In diesem Jahr hat zwar niemand aus dem Vorbereitungskurs den Sprung ans Gymnasium geschafft, aber die junge Frau konnte einigen helfen, ihre Schulnoten zu verbessern. Und noch wichtiger: Die Kinder und Jugendlichen besuchen gern die Hausaufgabenstunde. Unterdessen kommen jeden Sonntag rund 18 Kinder und Jugendliche. Den Kurs hat Pastore in zwei Gruppen unterteilt, damit konzentriertes Arbeiten möglich bleibt. Auf dem Zwicky-Areal wird am Sonntagmorgen also weiterhin gelehrt und gelernt – unabhängig von finanziellen Möglichkeiten und akademischen Ambitionen. Pastores Engagement hat nachhaltig etwas bewirkt und bewiesen, dass der menschliche Faktor wesentlich zur schulischen Leistung beiträgt.

Autor
Patricia Dickson

Datum

14.10.2025

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