Der Tag von Andrina Domenig beginnt mit einem kurzen Frühstück zu Hause in Thayngen im Kanton Schaffhausen. Um 8.10 Uhr geht’s los Richtung Deutschland. Die Mutter Carola fährt ihre drei jüngeren Kinder Andrina, Laurin und Julian jeden Morgen in die deutsche Gemeinde Hilzingen zur Schule. Die Fahrt mit dem Auto dauert acht Minuten. Meistens nehmen sie den Weg über die nahe unbewachte Grenze. Nur ein einsamer Pfahl und ein verwitterter Grenzstein erinnern an den Übergang. Es kommt aber auch vor, dass sie über das grosse Zollamt in Thayngen fahren müssen, dann mit allfälligen Passkontrollen und allem, was dazugehört.
Barrieren
Etui, Massstab, Pass – wenn die Schule ennet der Grenze liegt
Die Landesgrenze zu überqueren, ist für Andrina Domenig und Johannes Maier Alltag. Während die Schülerin aus der Schweiz nach Deutschland pendelt, um zu lernen, fährt der Lehrer in die andere Richtung, um zu unterrichten.

Mit ihren 14 Jahren ist Andrina die Jüngste der Familie. Bis zur 6. Klasse ging sie in Thayngen zur Primarschule. Der etwas ältere Julian wechselte schon früher an die Schule im Hegau in Hilzingen. Was Andrina von ihrem Bruder zu hören bekam, überzeugte sie so sehr, dass sie nach drei Wochen in der Schweizer Sek ebenfalls an die private «Christliche Schule im Hegau» wechselte. «Das war allein meine Entscheidung», sagt Andrina selbstbewusst. «Ich wusste ja von meinem Bruder, dass die Schule gut ist.»
Ein zusätzliches Jahr pädagogische Hochschule
Um 6.30 Uhr fährt Lehrer Johannes Maier mit dem Auto in Ewattingen im Schwarzwald los, um rechtzeitig im Sekundarschulhaus Gräfler in der Stadt Schaffhausen anzukommen. Sein Weg führt ihn über die meist unbewachte Grenze bei Bargen-Neuhaus. Ab und zu finden dennoch gezielte Kontrollen statt und Maier muss seinen Grenzgänger-Ausweis zeigen.
Der Lohn für Lehrpersonen in der Schweiz ist laut Maier gar nicht so viel höher als in Deutschland.
Maier arbeitet seit 15 Jahren an der Sekundarschule Gräfler. Schon damals bemühten sich Schweizer Kantone um deutsche Lehrpersonen. Als er im Gräfler begann, kamen von 35 Lehrpersonen erst drei aus Deutschland. Heute stellen die Deutschen ein Drittel der Lehrerschaft. «Ich fühlte mich sofort gut aufgenommen im Kollegium», erzählt Maier. Wegen des hohen Ausländeranteils gibt es keine Probleme. «Alle sind froh, dass wir hier arbeiten.»
Die Anerkennung des deutschen Staatsexamens verlief unkompliziert. Der Schulinspektor legte ihm nahe, ein drittes Fach (Deutsch) nachzuholen, um als Klassenlehrer langfristig arbeiten zu können. Dafür besuchte er ein Jahr lang berufsbegleitend die pädagogische Hochschule Zürich. Der Lohn in der Schweiz, so Maier, sei gar nicht so viel höher, wenn man ihn mit der Situation einer Lehrperson in Deutschland mit all ihren Privilegien vergleiche.

Für das Lernen im eigenen Tempo über die Grenze
Für Andrina beginnt der Unterricht um 8.20 Uhr. Nach einem besinnlichen Einstieg in den Tag geht sie an ihren individuellen Arbeitsplatz in die Lernlandschaft. In der «LeLa» arbeiten insgesamt 60 Schülerinnen und Schüler in drei altersdurchmischten Lerngruppen an ihren Lernzielen. Während dieser individuellen Lernzeit kann Andrina selbst entscheiden, ob sie sich Mathe, Englisch oder einem anderen Fach widmet. In der Regel stehen drei Lehrpersonen zur Unterstützung bereit.
«Lernen nach Interesse und im eigenen Tempo: Deshalb wechselte ich in die Schule im Hegau», sagt Andrina. Sie ist im erweiterten Niveau eingeteilt, was dem Gymnasium in der Schweiz entspricht. Hier werden höhere Anforderungen gestellt. In den Prüfungen muss sie 75 Prozent der Aufgaben richtig lösen. Noten gibt es bis zum 10. Schuljahr keine. Auch bei den Prüfungen kann Andrina selbst entscheiden, wann sie diese absolvieren möchte: «Wenn ich mit dem Stoff durch bin, kann ich das der Lehrerin sagen und die Prüfung ablegen. Das gefällt mir sehr.» Danach widmet sie sich dem nächsten Thema ihrer Wahl. Gerne helfe sie auch schwächeren Schülerinnen und Schülern aus dem mittleren oder dem Grundniveau, die sich einfach langsamer durch das Programm bewegen, erzählt Andrina.
In der Schweiz gibt’s einen engeren Bezug zur Klasse
Um 7.30 Uhr beginnt der Unterricht für die Realschulklasse von Johannes Maier. Von den 19 Schülerinnen und Schülern haben 80 Prozent einen Migrationshintergrund. Viele kommen aus Familien mit Wurzeln in der Türkei, Albanien, Kroatien oder Syrien. In diesem Schuljahr sitzen in Maiers Klasse keine Jugendlichen aus Deutschland, aber in den vergangenen Jahren unterrichtete er auch schon solche aus Büsingen, einer deutschen Enklave in der Schweiz. «Die Jugendlichen in meiner Klasse sind freundlich und aufgeschlossen, aber sie brauchen viel Motivation und eine klare Führung», sagt Maier.
«Hier kann ich eine viel engere Beziehung zu meinen Schülerinnen und Schülern aufbauen.»
Nach seinem Arbeitstag macht sich Lehrer Maier um 18 Uhr auf den Weg nach Hause. Für die Schülerinnen und Schüler ist es kein Problem, dass ihr Lehrer aus Deutschland kommt. Und auch Maier sieht sich nicht als Lehrer einer Schweizer Klasse, sondern eher als «Lehrer in einem internationalen Umfeld», wie er schmunzelnd sagt. An der Sek Gräfler schätzt er vor allem das eigene Klassenzimmer und die vielen Lektionen mit seiner Klasse. In Deutschland sei das System mit Fachlehrpersonen viel ausgeprägter. Die Lehrpersonen wanderten dort von Zimmer zu Zimmer. «Hier kann ich eine viel engere Beziehung zu meinen Schülerinnen und Schülern aufbauen», freut sich Maier.

Freundeskreis im Ausland
Um 15.25 Uhr endet für Andrina der Unterricht, an zwei Tagen bereits um 12.25 Uhr. Es bleibt also viel Zeit, um mit ihren Freundinnen etwas zu unternehmen, denn die Schule im Hegau kennt keine Hausaufgaben. Ihr enger Freundeskreis umfasst sechs Mädchen, die alle aus Deutschland stammen. Manchmal besucht sie eine von ihnen zuhause und Mutter Carola Domenig holt sie mit dem Auto ab. Die Familie einer guten Freundin besitzt fünf Pferde und Andrina darf zu ihr reiten gehen. Oft kommen die Mädchen aber auch nach Thayngen und unternehmen da zusammen etwas. Noch vom früheren Ballettunterricht her hält sie Kontakt zur mittlerweile letzten guten Freundin aus der Schweiz. Leider müsse diese oft auf Prüfungen lernen und habe deshalb nur noch wenig Zeit für gemeinsame Aktivitäten, bedauert Andrina.
Die deutschen und die Schweizer Schulferien sind kaum kompatibel.
Die Schule im Hegau legt grossen Wert darauf, dass die Schülerinnen und Schüler verschiedene Praktika besuchen, die jeweils eine Woche dauern. Andrina war bereits in einem Kindergarten in Thayngen und in einer Lerngruppe der Grundschule im Hegau. Fest abgemacht ist ein Praktikum als Drogistin im DM-Drogeriemarkt, einem Drogerieriesen in Deutschland. Geplant sind zudem Praktika in einer Anwaltskanzlei und in einem Architekturbüro.
Herausforderung Ferien
Ferien sind ein grosses Thema für den Lehrer und die Schülerin. Denn die deutschen und die Schweizer Schulferien sind kaum kompatibel. Für Johannes Maier und seine Familie mit drei schulpflichtigen Kindern bedeutet das, dass sie im Sommer nur während zwei Wochen gemeinsam etwas unternehmen können. Als Andrina noch in der Primarschule war und ihr älterer Bruder Julian schon in die Schule im Hegau ging, stand die Familie Domenig vor demselben Problem. Nun gelten für die ganze Familie die deutschen Schulferien.
Schon heute weiss Andrina ziemlich genau, was sie dereinst werden will: Scheidungsanwältin. Dafür möchte sie gerne an einer Schweizer Uni studieren. Da die Schweiz das deutsche Abitur nicht als gleichwertig zur Matura anerkennt, wird sie eine Aufnahmeprüfung ablegen müssen. Doch das nimmt Andrina in Kauf, denn sie möchte den Draht zu ihren Schweizer Wurzeln doch nicht ganz verlieren.
Autor
Roland Schaller
Datum
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