VR, KI & Co.

Erst die Pädagogik verleiht der digitalisierten Bildung einen Sinn

Schule soll mit der Zeit gehen, sich digitalisieren. Der Prozess ist langwierig und nicht selten zermürbend. Ein Lehrer berichtet und ein Professor für Didaktik sagt, worauf es ankommt.

Ein Schulkind trägt eine VR-Brille und bewegt
Die Techbranche hat die Schule als lukrativen Markt entdeckt. Wie stark werden virtuelle Realitäten, künstliche Intelligenz und Maschinen den Schulunterricht bestimmen? Foto: iStock/gorodenkoff

Die Digitalisierung wird die Bildung retten. So der Grundtenor von Visionärinnen und Visionären in publikumswirksamen Vorträgen über neue Technologien. «Stellen Sie sich vor …», beginnen sie ihre Präsentationen und erzählen, wie Bildung neu erfunden wird. Dabei fallen Sätze wie «Wir erleben aufregende Zeiten» und «Künstliche Intelligenz revolutioniert, wie wir lernen».

Ihre Visionen gehen jedoch oft im Nebel inhaltsloser Formulierungen wie «datenbasierte Disruption der Schule» und «Personalisierung basierend auf neuronalen Netzwerken» verloren. Unlängst wurde auch die Blockchain als Lösung alltäglicher Schulprobleme inszeniert. Die Technologie, auf der auch Kryptowährungen beruhen, soll zum Beispiel einen einfachen Zugang zu Bildung und absolute Datensicherheit ermöglichen.

Technologisierung der Bildung

Neu ist dieser Glaube an technische Lösungen zur Verbesserung der Schule nicht. 1913 verkündete der Erfinder Thomas Edison, dass Schulbücher bald ausgedient hätten. In den 1920er-Jahren wollte der Psychologe Sidney Pressey – nach dem Vorbild der Industrialisierung – den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler automatisieren. Dafür entwickelte er die «Teaching Machine», eine Lernmaschine mit Multiple-Choice-Tests. Die Bildungsrevolution jedoch blieb aus und heute ist Presseys Erfindung nur noch ein Kuriosum aus vergangenen Zeiten.

Die Idee, die Schule nach eigenen Vorstellungen neu zu erfinden, bleibt jedoch verlockend – vor allem für Unternehmerinnen und Unternehmer aus der Tech-Branche. Diesen wirft Audrey Watters in ihrem Buch «The Teaching Machine» vor, in ihrem unternehmerischen Eifer «die Bildungsgeschichte sowie die Geschichte der Bildungstechnologie grosszügig zu ignorieren». Watters ist eine bekennende Kritikerin der Bildungstechnologie und nannte sich einst selbst die «Kassandra der Bildungstechnologie». Im Zen­trum ihrer Kritik steht vor allem, dass Anbieter die Bildung in erster Linie als lukrativen Markt betrachten und dabei pädagogische Ziele vernachlässigen.

Schule kennt Veränderung

Unabhängig von kommerziellen Interessen hinterliess der technische Fortschritt an Schulen stets seine Spuren. Kopien lösten Matrizen ab, aus Dia-Shows wurden Videolektionen und statt auf Schreibmaschinen unterrichtete man das Zehnfingersystem auf Computern. Bessere Internetverbindungen und günstigere Videotechnologie boten mit sogenannten Moocs neue Lernformen und niederschwelligen Zugang zu Bildungsinhalten. Mooc ist die Abkürzung von Massive Open Online Course. Diese bereiteten den Weg für die Beliebtheit des Online-Lernens.

Digitalisierung als Idee ist in der Schule angekommen, doch der ­Prozess harzt.

An Schweizer Schulen sind immer mehr digitale Geräte im Einsatz. Logischerweise nutzen Schülerinnen und Schüler häufiger Computer, je älter sie werden. Die Ausstattung an den Schulen jedoch variiert stark, betont die Fachagentur Educa 2021 in ihrem Bericht «Digitalisierung in der Bildung». Ausserdem werden die Geräte in der Deutschschweiz häufiger für Unterrichtsinhalte verwendet als im Tessin und in der Romandie.

Digitalisierung als Idee ist in der Schule angekommen, doch der Prozess harzt. «Schweizer Schulen vertrödeln Digitalisierung», titelte darum das IT-Magazin Netzwoche etwas polemisch als Reaktion auf den Digitalisierungsbericht der Fachagentur des Bundes.

Das Desaster von Bern

Wie herausfordernd Digitalisierungsprojekte sind, zeigte jüngst die Einführung der webbasierten Lernplattform ­Base4Kids an den Stadtberner Schulen. Das Projekt startete hoffnungsvoll, als 2018 die Stimmbevölkerung mit grosser Mehrheit für die Finanzierung über zwanzig 24 Millionen Franken guthiess.

«Von Schwierigkeiten zu sprechen, wäre massiv untertrieben.»

Ziel war eine zeitgemässe IT-Infrastruktur für die Schulen. Die Umsetzung sollte sich als Desaster herausstellen. Die iPads der Schülerinnen und Schüler funktionierten unzuverlässig, Drucken war Glückssache und die Nutzerfreundlichkeit erwies sich als unterirdisch. «Von Schwierigkeiten zu sprechen, wäre massiv untertrieben», sagt Manuel C. Widmer, der in Bern als Primarlehrer unterrichtet und zugleich Mitglied des Stadtparlaments ist.

Handlich, aber untauglich

Die Probleme waren ausgerechnet dort am grössten, wo die neue Infrastruktur eigentlich Verbesserungen bringen sollte: im Unterrichtsalltag. Ein Jahr nach der Einführung musste nachgebessert werden. Lehrpersonen dürfen wieder eigene Geräte verwenden und erhielten zusätzliche Schulungen für die Plattform.

Unterdessen ist etwas Ruhe in den Alltag eingekehrt. Widmer formuliert seine Einschätzung der aktuellen Situation pragmatisch: «Zum Arbeiten ist die Plattform jetzt für die Schülerinnen und Schüler nutzbar.» Insgesamt kostete das Projekt bisher rund 27 Millionen Franken – und sehr viele Nerven.

«Schweizer Schulen haben ihr digitales Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.»

Die nächste Phase

Als Selbstzweck wäre die Digitalisierung ein teurer Spass. Mit der Frage, wozu es überhaupt eine Digitalisierung der Bildung braucht, beschäftigt sich Dominik Petko, Professor für Didaktik und Bildungstechnologie an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Schulentwicklung mit digitalen Medien. Er sagt: «Schweizer Schulen haben ihr digitales Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.» Damit bezieht er sich nicht nur auf die nötige Infrastruktur, sondern auf die didaktischen Möglichkeiten, die diese bieten.

Digitalisierung war lange Synonym für die Aufrüstung der IT-Infrastruktur und dem Erlernen von einfachen Computerkenntnissen. In einem nächsten Schritt verändert die Digitalisierung die Lernkultur. Es kommt zur sogenannten Digitalen Transformation, die nicht nur analoge Tätigkeiten imitiert, sondern diese weiterentwickelt. «Wenn digitale Technologien uns immer mehr Routineaufgaben abnehmen, dann müssen wir in der Schule mehr Nicht-Routinefähigkeiten vermitteln», sagt Petko. Insbesondere überfachliche und soziale Fähigkeiten, kritisches Denken und Kreativität werden künftig gefragt sein.

Digitalisierung kann die Schule weiterbringen, sie ist jedoch keine Patentlösung – schon gar nicht ein Allheilmittel. Petko hofft auf neue Impulse für die Didaktik, sieht aber auch Probleme, wo Digitalisierung falsch eingesetzt wird. Zum Beispiel sind Hausaufgaben mit digitalen Medien kontraproduktiv, wenn nur zusammengefasst oder abgeschrieben wird. Die Arbeit mit dem Internet birgt ausserdem grosses Ablenkungspotenzial.

«Am besten ist es, den Laptop gezielt auf- und gezielt wieder zuzuklappen.»

Die verführerische Kraft des Internets ist eine Herausforderung, egal wie alt man ist. Petko empfiehlt: «Am besten ist es, den Laptop gezielt auf- und gezielt wieder zuzuklappen. Man muss nicht ständig mit digitalen Medien arbeiten.» Wichtig sei, dass Schülerinnen und Schüler dabei mit einer kreativen Nutzung der Geräte vertiefte Lernerlebnisse sammeln können.

Vielfältiger lernen

Auch Petko hat Visionen für die Bildung. Doch für ihn dient technische Innovation in erster Linie alten pädagogischen Anliegen, die man nun – zum Beispiel mit interaktiver Technik – besser realisieren kann. «Schule muss aktivierender werden, um zukunftsfähige Kompetenzen zu vermitteln», sagt er. «Digitale Medien können die Türe des Klassenzimmers öffnen und reale Phänomene erlebbar machen, die sonst nicht so einfach zugänglich wären», sagt Petko. Er meint damit anschauliche Bilder und Videos, Daten und Experimentierumgebungen und nicht zuletzt auch den digitalen Austausch mit Menschen ausserhalb des Klassenzimmers.

Die Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Sie wird nie alle Probleme lösen, aber sie wird Schulen, Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern immer leichter fallen. Diese wachsen gemeinsam in eine digital geprägte Kultur hinein. So fällt es je länger je leichter, nützliche Lösungen von den wohlfeilen Verkaufsversprechen der Technologiebranche zu unterscheiden.

Datum

30.11.2022

Publikation
BILDUNG SCHWEIZ

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