100. Todestag von Rudolf Steiner

Eine Weltanschauung, die bis heute nachwirkt

Vor 100 Jahren starb Rudolf Steiner, Begründer der Steinerschulen. Sein Erbe ist immer noch präsent. Die Diskussionen um die pädagogische Ausrichtung ebenfalls.

Kinder praktizieren Eurythmie
Die neunte Klasse der Steinerschule Sihlau inszeniert als Abschlussaufführung des Schweizer Jugend-Eurythmie-Festivals «Orpheus und Eurydike». Foto: Uta Meyer

Die 28 Steinerschulen in der Schweiz gehören der grössten freien Schulbewegung der Welt an. Auch 100 Jahre nach dem Tod ihres Begründers Rudolf Steiner leben sie weiterhin nach dem ganzheitlichen Ansatz der Waldorfpädagogik. Der Begriff Waldorf geht auf die Entstehung der Schulen zurück (siehe Box). In Deutschland werden die Schulen darum auch Waldorfschulen genannt. Doch wie sieht Steiners pädagogisches Vermächtnis aus? Eine Spurensuche.

Die von Steiner konzipierte «anthroposophische Menschenkunde» zielt darauf ab, das Kind intellektuell, physisch und sozial zu erziehen. Bettina Rey, die seit 2011 an der Steinerschule Sihlau im zürcherischen Adliswil unterrichtet und der Schulleitung angehört, erläutert: «Aus der Betrachtungsweise, die den Menschen als ganzheitliches Wesen mit Leib, Seele und Geist ernst nimmt, entsteht ein Lehrplan, der den ganzen Menschen bilden will.» Selbstverständliche Bestandteile des Lehrplans seien zwei Fremdsprachen von Beginn an, Handarbeit, Werken, Eurythmie (siehe Box), Musik, Gartenbau, Klassenspiele und altersdurchmischtes Lernen.

«Nur durch das Tätigwerden reifen kognitive Prozesse in den Kindern.»

Der Unterricht folgt gemäss Rey bestimmten Rhythmen und Ritualen, die dem natürlichen Lernprozess der Kinder entsprechen sollen. Es wird eine ausgewogene Förderung von Denken, Fühlen und Wollen angestrebt. Die Steinerpädagogik ist durch ihre Handlungsorientierung geprägt: «Nur durch das Tätigwerden reifen kognitive Prozesse in den Kindern», betont Rey.

Kritik aus der Erziehungswissenschaft

Jürgen Oelkers, Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Zürich, ist bekannt für seine kritische Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik, der auch die Waldorfschulen zugerechnet werden. Problematisch findet er, dass Steinerschulen und Volksschulen auf einer radikal anderen Weltanschauung basieren. Kurz: Erstere stützt sich eher auf ein esoterischs Weltbild, während die Volksschule auf wissenschaftsbasierte Pädagogik setzt.

Oelkers betont zudem, dass das Weltbild der Steinerschulen auf einen einzigen Mann zurückgeht. Gegenüber BILDUNG SCHWEIZ formuliert er es so: «Der Gründer starb vor 100 Jahren – und danach soll es keine grundlegenden neuen oder abweichenden Erfahrungen gegeben haben.» Die Realität sieht aber anders aus. Das hat Folgen: «Alles muss mit Steiners Weltanschauung vereinbart und sonst abgestossen werden.» Die Ausbildung – das Lehrpersonal durchläuft eine spezielle, eigene Ausbildung – soll laut Oelkers für den festen Glauben sorgen. Aber die Praxis halte dann ihre eigenen Herausforderungen bereit, so Oelkers.

Oelkers plädiert für eine kritischere Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Grundlagen der Waldorfpädagogik

Als problematisch und esoterisch stuft er bestimmte Aspekte der Lehre ein, etwa Steiners Vorstellung von «Jahrsiebten» in der kindlichen Entwicklung. Gemäss seiner Vorstellung gibt es in jeder Phase spezifische Bedürfnisse. Auf diesen Rhythmus wird dann der Unterricht abgestimmt. Oelkers plädiert für eine kritischere Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Grundlagen der Waldorfpädagogik und für deren Anpassung an moderne pädagogische Erkenntnisse und gesellschaftliche Anforderungen. Die Steinerschulen stünden etwa der Digitalisierung sehr skeptisch gegenüber.

Keine digitale Bildung im Primarschulalter

Darauf angesprochen verweist Rey auf das Medienkonzept der Schule Sihlau: «Der kompetente Umgang mit digitalen Medien basiert auf einer Medienmündigkeit.» Diese setze wiederum elementar wichtige Kompetenzen voraus, die man sich wie die Stockwerke eines Turms in den verschiedenen kindlichen Entwicklungsphasen vorstellen könne. Die sensomotorische Integration ist das Fundament für alle weiteren Entwicklungsschritte: Kommunikations-, Produktions-, Rezeptions-, Selektionsfähigkeiten, sowie die kritische Reflexion. 

«Diese Entwicklungsschritte werden durch den Bildschirmkonsum verhindert. Bildschirme finden deshalb bei uns im Primarschulalter keinen Platz», sagt Rey. Die Schule in Adliswil setze stattdessen auf eine indirekte, analoge Medienpädagogik. In diesem Sinne würden auch die Eltern für die Medienerziehung der Schule sensibilisiert.

Eine Lehrperson für alles

Ein weiterer oft geäusserter Kritikpunkt ist das «Klassenlehrerprinzip»: Die Klassen in den Steinerschulen bleiben bis zu neun Jahren zusammen. An vielen Schulen sind es heute noch sechs Jahre. Zudem findet keine Selektion während der obligatorischen Schulzeit statt. Oelkers findet es «hochproblematisch», wenn eine Klasse über Jahre von derselben Klassenlehrperson unterrichtet wird. Dies insbesondere dann, wenn diese «für die Klasse die falsche ist, sich die Bindung abnützt oder aus ideologischen Gründen ein Wechsel verweigert wird». 

Oelkers sieht jedoch auch Positives an Steinerschulen. Diese hätten recht, wenn sie die Lernverantwortung und Erziehung im Gegensatz zu anderen Schulen nicht einer «Selbstorganisation» überliessen. Selbstorganisation, ein im sogenannten selbstorganisierten Lernen gängiges Konzept, überfordert Kinder, ist Oelkers überzeugt. Dies wiederum rechtfertige aber nicht, Kindern eine bestimmte Weltanschauung zu vermitteln.

Nachgefragt bei einer Maturandin, welche die Steinerschule absolviert hat, sagt diese: «Ich hatte mega Glück und fand es cool, mit meiner Klasse in die Oberstufe zu wechseln.» Lehrerin Bettina Rey weist auf die Geborgenheit hin, die durch die langjährige Begleitung der Lehrpersonen entstehe und in der ein Lernen durch Beziehung optimal gefördert werden könne. Im Idealfall mag dies zutreffen. Schwieriger dürfte es für Kinder sein, die mit der Klassendynamik oder der Lehrperson nicht zurechtkommen.

Volksschule und Steinerschulen

Wäre zu fragen, welche Auswirkungen Steinerschulen auf die Volksschule hatten oder haben? Bei gewissen Themen könnte man folgern, dass die Volksschule einiges übernommen hat. Man denke zum Beispiel an die hitzig geführte Diskussion um Noten, an Konzepte wie den Unterricht im Freien oder an den Verzicht auf Kurzpausen zwischen den Lektionen, um ein vertiefteres Lernen zu ermöglichen. Oelkers sieht es eher umgekehrt. Sein Beispiel: «Die Steinerschulen haben Teile aus der Volksschulpädagogik des 19. Jahrhunderts wie den Epochenunterricht der Herbartianer übernommen.» Im Epochenunterricht der Steinerschulen werden über drei bis vier Wochen täglich die ersten beiden Lektionen dem gleichen Thema gewidmet. 

«Man kann lange an einem Thema dranbleiben und es immer wieder wiederholen.»

Lernstrategisch ist diese Vertiefung sinnvoll, was auch die befragte Schülerin bestätigt: «Man kann lange an einem Thema dranbleiben, eintauchen und es immer wieder wiederholen. Dadurch bleibt das Essenzielle hängen.» Die Vertiefung von Themen über einen längeren Zeitraum, Doppelstunden oder eben Epochen sind laut Oelkers an vielen Schulen bekannt. Diese beziehen sich dabei aber nicht auf Waldorfschulen. Gleiches gelte für die schon ältere Forderung nach Abschaffung von Noten an der Volksschule. Allerdings bestehen sie dort im Unterschied zu den Waldorfschulen weiter.

Wie wichtig ist das anthroposophische Menschenbild an Waldorfschulen heute überhaupt noch? Darauf antwortert Oelkers lakonisch: «Je nachdem, wie orthodox die Schulen geführt und wie stark sie von einer anthroposophischen Elternschaft beeinflusst werden.» Diese muss zudem bereit sein, das Schulgeld aufzubringen und sich ehrenamtlich zu engagieren. Diese spezifischen Voraussetzungen, so Oelkers, begrenzten die Nachfrage und machten die Schulen in gewisser Weise unzugänglich für Aussenstehende.

Waldorfschulen

Rudolf Steiner entwickelte die Waldorfpädagogik vor dem Hintergrund des sozialen und wirtschaftlichen Chaos nach dem Ersten Weltkrieg. Der Anstoss kam von Emil Molt. Der Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart wandte sich mit der Bitte an ihn, ihn beim Aufbau einer Schule für die Kinder der Fabrikangestellten zu unterstützen. 1919 wurde in Deutschland die erste Waldorfschule eröffnet, 1926 folgte die erste Steinerschule in Basel. 

Steiner entwickelte abgesehen von diesem Schulkonzept auch anthroposophische Konzepte für die Medizin, die biologisch-dynamische Landwirtschaft und die Eurythmie . Die Eurythmie ist eine anthroposophische Bewegungskunst, die als eigenständige darstellende Kunst und als Teil von Bühneninszenierungen betrieben wird. Heute gibt es gemäss Bund der Freien Waldorfschulen weltweit rund 1280 Schulen, davon laut Angaben des Verbands der Rudolf-Steiner-Schulen 28 Schulen in der Schweiz. 2018 besuchten gemäss Handbuch für Vereine der Reformpädagogik 6600 Schülerinnen und Schüler vom Kindergarten bis zum Gymnasium (Schweiz und Liechtenstein) eine Steinerschule.

Autor
Irene Schertenleib

Datum

21.05.2025

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