Eine Lehrperson für alles
Ein weiterer oft geäusserter Kritikpunkt ist das «Klassenlehrerprinzip»: Die Klassen in den Steinerschulen bleiben bis zu neun Jahren zusammen. An vielen Schulen sind es heute noch sechs Jahre. Zudem findet keine Selektion während der obligatorischen Schulzeit statt. Oelkers findet es «hochproblematisch», wenn eine Klasse über Jahre von derselben Klassenlehrperson unterrichtet wird. Dies insbesondere dann, wenn diese «für die Klasse die falsche ist, sich die Bindung abnützt oder aus ideologischen Gründen ein Wechsel verweigert wird».
Oelkers sieht jedoch auch Positives an Steinerschulen. Diese hätten recht, wenn sie die Lernverantwortung und Erziehung im Gegensatz zu anderen Schulen nicht einer «Selbstorganisation» überliessen. Selbstorganisation, ein im sogenannten selbstorganisierten Lernen gängiges Konzept, überfordert Kinder, ist Oelkers überzeugt. Dies wiederum rechtfertige aber nicht, Kindern eine bestimmte Weltanschauung zu vermitteln.
Nachgefragt bei einer Maturandin, welche die Steinerschule absolviert hat, sagt diese: «Ich hatte mega Glück und fand es cool, mit meiner Klasse in die Oberstufe zu wechseln.» Lehrerin Bettina Rey weist auf die Geborgenheit hin, die durch die langjährige Begleitung der Lehrpersonen entstehe und in der ein Lernen durch Beziehung optimal gefördert werden könne. Im Idealfall mag dies zutreffen. Schwieriger dürfte es für Kinder sein, die mit der Klassendynamik oder der Lehrperson nicht zurechtkommen.
Volksschule und Steinerschulen
Wäre zu fragen, welche Auswirkungen Steinerschulen auf die Volksschule hatten oder haben? Bei gewissen Themen könnte man folgern, dass die Volksschule einiges übernommen hat. Man denke zum Beispiel an die hitzig geführte Diskussion um Noten, an Konzepte wie den Unterricht im Freien oder an den Verzicht auf Kurzpausen zwischen den Lektionen, um ein vertiefteres Lernen zu ermöglichen. Oelkers sieht es eher umgekehrt. Sein Beispiel: «Die Steinerschulen haben Teile aus der Volksschulpädagogik des 19. Jahrhunderts wie den Epochenunterricht der Herbartianer übernommen.» Im Epochenunterricht der Steinerschulen werden über drei bis vier Wochen täglich die ersten beiden Lektionen dem gleichen Thema gewidmet.
«Man kann lange an einem Thema dranbleiben und es immer wieder wiederholen.»
Lernstrategisch ist diese Vertiefung sinnvoll, was auch die befragte Schülerin bestätigt: «Man kann lange an einem Thema dranbleiben, eintauchen und es immer wieder wiederholen. Dadurch bleibt das Essenzielle hängen.» Die Vertiefung von Themen über einen längeren Zeitraum, Doppelstunden oder eben Epochen sind laut Oelkers an vielen Schulen bekannt. Diese beziehen sich dabei aber nicht auf Waldorfschulen. Gleiches gelte für die schon ältere Forderung nach Abschaffung von Noten an der Volksschule. Allerdings bestehen sie dort im Unterschied zu den Waldorfschulen weiter.
Wie wichtig ist das anthroposophische Menschenbild an Waldorfschulen heute überhaupt noch? Darauf antwortert Oelkers lakonisch: «Je nachdem, wie orthodox die Schulen geführt und wie stark sie von einer anthroposophischen Elternschaft beeinflusst werden.» Diese muss zudem bereit sein, das Schulgeld aufzubringen und sich ehrenamtlich zu engagieren. Diese spezifischen Voraussetzungen, so Oelkers, begrenzten die Nachfrage und machten die Schulen in gewisser Weise unzugänglich für Aussenstehende.