Teamentwicklung

Eine Schule geht mit ihren Lehrkräften neue Wege

Die Primarschule Altstätten möchte die Zusammenarbeit fördern. Vor dem ersten Schultag besuchten die Lehrerinnen und Lehrer darum eine Weiterbildung. Dabei waren Vorfreude und Zuversicht – aber auch Erwartungen und Befürchtungen zu spüren.

Lehrerinnen und Lehrer der Schule Altstätten tauschen sich in einer Gruppe in einem Schulzimmer aus.
Das Team der Schule Altstätten soll künftig vermehrt zusammenarbeiten. An einem Teamanlass diskutieren Lehrerinnen und Lehrer, was das für sie bedeutet. Fotos: Gion Pfander

Ein Freitagmorgen im August. Über dem Hohen Kasten, dem markanten Berg an der Grenze zwischen Appenzell und St. Gallen, schweben drei Luftballone. Es ist Flugwetter. Keine Wolke am Himmel über Altstätten im Rheintal, einer Kleinstadt mit rund 12 000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

Es ist kurz vor acht Uhr morgens am letzten Schulferientag. Vor dem Foyer des Schulhauses Schöntal haben sich die Lehrpersonen der drei Altstätter Primarschuleinheiten versammelt. Auf dem Programm steht eine Weiterbildung zum Thema «Zusammenarbeit in Unterrichtsteams».

Im Zeitalter der «U-Teams»

Die Primarschule Altstätten ist seit einigen Jahren in Bewegung. «Wir sind überzeugt, dass die Digitalisierung unsere Welt fundamental verändert. Darauf wollen wir in unserer Schule eine Antwort finden, damit wir die Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf das Leben vorbereiten», sagt Marco Schraner, seit 14 Jahren Schulleiter im Dreier-Schulleitungsteam.

«Mit Unterrichtsteams möchten wir die Zusammenarbeit stärken.»

Zusammengefasst möchte die Schule Altstätten die im 19. Jahrhundert für das Zeitalter der Industrialisierung geschaffene Schulorganisation verlassen und in der Schule des 21. Jahrhunderts ankommen. Für die Lehrpersonen heisst das: von der Instruktion zur Lernbegleitung, vom Einzelkämpfertum zum Team, von der Tradition zur Innovation.

Für den Unterricht bedeutet es unter anderem: vom Wissen zur Kompetenz, vom Gleichschritt zur Individualisierung, vom Erinnern zum Erschaffen. Die Organisation in Unterrichtsteams (U-Teams) ist ein nächster grosser Schritt auf dem Weg von der «alten» zur «neuen» Schule.

Erfolgsfaktoren für die Teamarbeit

Zusammenarbeit ist keine Hexerei. Für das Expertenteam, das die Schule Altstätten begleitet, sind vier Themen wichtig, damit die Zusammenarbeit im Unterrichtsteam funktioniert.

1. Zeit

Damit ein zufällig zusammengestelltes Team mit unterschiedlichen Interessen und Ressourcen zusammenwächst und Kraft entwickelt, braucht es Zeit. In meinem Fall sind wir seit vier Jahren gemeinsam unterwegs, und seit zwei Jahren habe ich das Gefühl, dass wir ein richtiges Team geworden sind. Ich ermuntere alle, das ‹Auf-dem-Weg-sein› als wertvollen Teil des Prozesses zu betrachten, bei dem man Spannendes über sich selbst, die Kolleginnen und Kollegen und die Schule erfährt.

2. Beziehung

Gerade weil man nicht mit freiwillig ausgewählten Menschen zusammenarbeitet, lohnt es sich, in die Beziehung zu investieren. Je mehr man seine Kolleginnen und Kollegen als Berufsleute, aber auch als Menschen kennt, desto tragfähiger wird die Arbeitsbeziehung. Der Schlüssel für ein funktionierendes Unterrichtsteam ist die Beziehung. Wenn es im U-Team funktioniert, funktioniert es auch mit den Schülerinnen und Schülern.

3. Fehlerkultur

Lehrpersonen haben die Tendenz, keine Fehler machen zu wollen. Der Wille, es richtig zu machen und die Erwartungen zu erfüllen, kann zu Blockaden und Stillstand führen. Auf dem Weg zu einem gut funktionierenden Unterrichtsteam sind aber alle Beteiligten am Lernen, und wer lernt, macht Fehler. Eine wohlwollende Fehlerkultur, unterstützendes Feedback, Offenheit und Vertrauen, auch über Nichtgeglücktes sprechen zu können, sind enorm wichtig.

4. Klein beginnen

Vor allem zu Beginn ist es essenziell, nicht zu grosse Projekte anzugehen und die Zusammenarbeit nicht mit zu hohen Erwartungen zu belasten. Man sollte machbare Arbeitspakete definieren und konfliktträchtige Themen anfangs meiden. Wenn man erfolgreich kleine Brötchen bäckt, stärkt dies das Vertrauen und die Beziehung. Positive Erlebnisse motivieren dazu, sich auch anspruchsvolleren Themen zu widmen.

Grundlage für diesen Veränderungsprozess war die Strategie, welche die Schulleitungskonferenz zusammen mit dem IT-Verantwortlichen der Schule erarbeitet hatte und die 2021 von der politischen Aufsichtsbehörde gutgeheissen worden ist.

Seither ist viel passiert: Jeder Schüler, jede Schülerin hat einen persönlichen Laptop mit eigenem Benutzerkonto, Schulzimmer wurden zu Lernlandschaften umgestaltet, Kleinklassen aufgelöst und Noten durch Leistungsnachweise ersetzt. Nach so vielen Veränderungen steht nun also der nächste Entwicklungsschritt an.

Es ist acht Uhr morgens, Schulleiterin Neff Gadient klingelt mit einer Glocke, doch wie bei den Kindern ist es auch bei Lehrpersonen nicht ganz einfach, die angeregten Gespräche zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu gewinnen.

Sie begrüsst die Lehrpersonen zum neuen Schuljahr und führt in den Weiterbildungstag ein: «Mit der Einführung der Unterrichtsteams möchten wir die Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen stärken, so können sie den Unterricht gemeinsam weiterentwickeln.»

Als Einzelperson könne man den heutigen vielfältigen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden. Die Arbeit im U-Team trage zur Entlastung der einzelnen Lehrperson und somit zu einer gesunden Schule bei. Die Arbeit in Teams setze Ressourcen frei, ganz nach dem Motto: Eins und eins macht drei.

Veränderung braucht Zeit

Digitaler Unterricht, Abschaffung von Kleinklassen und Noten, Umwandlung der Schulzimmer in Lernlandschaften und jetzt der Abschied von der traditionellen Rolle der Klassenlehrperson. Wie viel Veränderung erträgt eine Schule in so kurzer Zeit?

«Also ich könnte nicht damit umgehen, dass mir jemand einen Materialordner hinlegt, mit dem ich dann arbeiten muss.»

Tatjana Albert hat diesen Weiterbildungsanlass zusammen mit der Schulleitung vorbereitet. Sie ist seit 26 Jahren Kindergartenlehrperson, seit 20 Jahren Schulleiterin, aktuell in Männedorf im Kanton Zürich. Als Beraterin der Organisation «schulentwicklung.ch» hat sie in viele Schulhäuser hineingesehen.

«Wenn man für etwas brennt und Freude an der Arbeit hat, kann man die Menschen mitnehmen», ist sie überzeugt. Zentral sei, dass sich die Lehrpersonen ernst genommen und wertgeschätzt fühlten. Im Falle von Altstätten hat sicher geholfen, dass die Schulleitung diese Veränderung mit einem Ressourcenausbau begleitet hat: Sie stellt den U-Teams zusätzliche Zeit für Sitzungen zur Verfügung.

Ein Fiasko vermeiden

Nach der Begrüssung teilen sich die Lehrpersonen auf und arbeiten in Gruppen mit der Referentin Tatjana Albert und den beiden Referenten Mattia Mordasini und Alessandro Lanza. Einer von ihnen erzählt von einer grossen Krise, die er selbst in einem U-Team erlebt hat. Das Team habe einem Mitglied den Auftrag delegiert, das Thema Wald für den Unterricht vorzubereiten.

Als dieses den Ordner mit dem pfannenfertigen Unterrichtsmaterial vorgelegt habe, habe ein anderes Teammitglied sein heftiges Missfallen bekundet und kommentiert, dass es mit diesen Vorbereitungen «gar nichts» anfangen könne. Darauf sei eine Serie von Verletzungen in Gang gekommen, die das Unterrichtsteam letztlich arbeitsunfähig in der bestehenden Konstellation gemacht habe, so der Referent.

Das Beispiel weckt Emotionen: «Wie kann man ein solches Fiasko vermeiden?», fragt eine Teilnehmerin. Der Referent formuliert die Frage etwas um und gibt sie in die Gruppe zurück. «Wie kann man die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Zusammenarbeit gelingt?» «In dem man im Vorfeld die Erwartungen und die Bedürfnisse klärt», sagt jemand. Eine andere Stimme: «Also ich könnte nicht damit umgehen, dass mir jemand einen Materialordner hinlegt, mit dem ich dann arbeiten muss.»

Der Referent rät dazu, die Zusammenarbeit mit kleinen Projekten zu erproben. Und er plädiert für eine sorgfältige Nachbearbeitung: «Es ist wichtig, über die Zusammenarbeit zu sprechen: Was ist gut gelaufen, was war schwierig?»

Ist Zusammenarbeit eine Generationenfrage?

Pause. Zeit für eine Umfrage: Wie kommt die Umstellung auf die Arbeit in Unterrichtsteams bei den Lehrpersonen an?

Ein Junglehrer, knapp 30, Teamteacher und Heilpädagoge: «Ich kenne gar nichts anderes als die Arbeit in multiprofessionellen Teams. Unsere Generation ist sich das gewöhnt. Ich habe mich unter anderem für diese Schule entschieden, weil sie in U-Teams arbeitet, eine One-Man-Show wäre nichts für mich.»

Eine ältere Lehrperson mit über 40 Jahren Erfahrung: «Ich bin in einem U-Team mit drei Menschen, die jünger als meine Tochter sind und ich stelle fest, dass diese zum Teil mehr Mühe mit der Zusammenarbeit haben als ich. Es ist definitiv keine Generationenfrage, vielmehr kommt es auf die Beziehung an.»

«Das ist für mich die richtige Art von Schulunterricht.»

Ein Lehrer um die 50: «Heute ist mein erster Schultag in dieser Schule. Ich komme aus einer kleinen Schule, die nur drei Klassen hatte. Wir waren Einzelkämpfer. Hier habe ich endlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Das ist für mich die richtige Art von Schulunterricht.»

Eine ältere Lehrperson, die seit bald vierzig Jahren unterrichtet, sagt, dass sie Mühe habe mit den Veränderungsansprüchen «von oben». Sie macht sich Sorgen, dass vor allem junge Lehrpersonen mit zu vielen Umwälzungen und Anforderungen konfrontiert seien und dann desillusioniert und müde aus dem Beruf aussteigen würden.

Im Gegensatz zu den Direktiven «von oben» sei der Prozess an der Schule in Altstätten hin zu den U-Teams aber gut aufgegleist. Besonders schätze sie, dass alle den gleichen Wissensstand hätten und die U-Teams sich ihre Ziele selbst setzen könnten. «Klare Erwartungen, aber offene Zielsetzung. So muss es sein.»

Vorbild auch als Team

Beim Mittagessen – das Hauswartsteam hat Salate vorbereitet und grilliert Würste – diskutieren die Lehrpersonen über die Eindrücke des Morgens. Eine junge Frau erzählt, dass sie heute ihren allerersten Tag als Lehrperson erlebt. Und sie ist überglücklich über diesen Start: «Als Anfängerin sind für mich Unterrichtsteams sehr wichtig, ich würde mich sonst allein fühlen.»

Auf die Frage, ob ihr das Zusammenarbeiten mit unbekannten Kolleginnen und Kollegen nicht Respekt einflösse, sagt sie: «Wenn wir von unseren Schülerinnen und Schülern erwarten, dass sie mit anderen zusammenarbeiten können, müssen wir das selbst doch auch können. Schliesslich sind wir Vorbilder.»

Autor
Peter Haerle

Datum

23.10.2024

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