Gespräch über Medien

«Die Neugier der jungen Menschen bleibt»

Die Medienbranche durchläuft einen dramatischen Wandel: Abozahlen schrumpfen, Werbeeinnahmen sind rückläufig. Wer führt nun die nächste Generation ans Zeitunglesen heran? Publizist Roger de Weck ordnet ein.

Roger de Weck im Gespräch mit Bildung Schweiz.
Roger de Weck bezeichnet die Schule als Entschleunigungsanstalt einer Gesellschaft. Fotos: Philipp Baer

Bildung Schweiz: Herr de Weck, erinnern Sie sich noch an Ihre erste Zeitungslektüre?

ROGER DE WECK: Ja. Ich war achtjährig und konnte schon gut lesen. Im Dorf meiner Grosseltern, Matran bei Freiburg, überfielen zwei Gangster den Bahnhofsvorsteher und verletzten ihn. Sie raubten ein paar Franken aus der Kasse und flohen in die Freiburger Voralpen. Die Zeitung «La Liberté» berichtete Tag für Tag über die Verfolgungsjagd. Mein erstes Lektüreerlebnis.

Was hat das mit Ihnen gemacht?

Es war der Einbruch des Bösen in mein Leben. Seitdem wusste der Primarschüler: Ich will Journalist werden.

Wie wurden Sie von Ihren Eltern an diese Mediennutzung herangeführt?

Die Zeitung lag auf dem Esstisch, überall waren Bücher, alle lasen oder lasen vor – ein weiteres Heranführen gab es nicht. Am Familientisch wurde lebhaft über das aktuelle Geschehen diskutiert.

Zur Person

Roger de Weck (71) stammt aus dem Kanton Freiburg und wuchs in Genf auf. Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre und der Wirtschaftsgeschichte an der Universität St. Gallen stieg er in den Journalismus ein. Es folgten unter anderem Anstellungen bei der «Tribune de Genève», der «Weltwoche» und der «Zeit». 1992 wurde er zum Chefredaktor des «Tages-Anzeiger» ernannt. In den Nullerjahren arbeitete de Weck als freier Publizist, bevor er 2011 zum Generaldirektor der SRG SSR ernannt wurde. 2024 erschien sein neustes Buch «Das Prinzip Trotzdem», in welchem er über die Zukunft der journalistischen Medien schreibt. De Weck ist verheiratet, Vater von vier erwachsenen Kindern und lebt in Zürich und Berlin.

Die Zeiten haben sich geändert. Immer weniger Zeitungen liegen auf dem Familientisch herum. Ist es ein Problem für das Herangewöhnen von Kindern an die Medien?

Ich bin kein Kulturpessimist: Jede Generation findet ihre eigenen Wege zur Aufklärung und zum erkenntnisorientierten Dialog.

Die Medien haben sich in den vergangenen Jahren radikal gewandelt. Wie beurteilen Sie die Ist-Situation?

Die gedruckte Zeitung war ein kuratiertes Ganzes, eine Kumulierung kleiner Publika: Die einen interessieren sich für den Wirtschaftsteil, die anderen für Buchrezensionen. Die Redaktionen dachten vom Angebot her, mit Seitenblick auf die Nachfrage. Heute beherrschen Klicks und Quoten – also die Nachfrage – weite Teile der Medienwelt.

«Jede Generation findet ihre eigenen Wege, um zur Aufklärung zu gelangen.»

Die meisten Zeitungen wollen online stets das grösstmögliche Publikum erreichen, nicht eine Vielzahl kleiner Publika. Möglichst wenige Artikel sollen von möglichst vielen Menschen gelesen werden. Also je reisserischer, desto besser. Das Problem an diesem «Geschäftsmodell»: Wir sind im On-Demand-Zeitalter. Jede und jeder ruft gemäss eigenen Präferenzen das ab, was sie oder ihn besonders interessiert.

Was sollen die Medienhäuser tun?

Sie sollten zu einem Journalismus der Kumulierung kleiner Publika zurückkehren, statt das ganz grosse Publikum mit Boulevard zu versorgen.

«Keine einzige Aufgabe ist ausschliesslich Sache der Schulen.»

Welche Rolle wird der Schule zuteil, wenn es um die Heranführung an die Medien geht?

Wir leben in der Mediengesellschaft. Deshalb ist es wesentlich, dass Kinder und Jugendliche die Medien beherrschen lernen, statt von ihnen beherrscht zu werden. Aber: Keine Aufgabe ist ausschliessliche Sache der Schulen. Die Vorstellung, Lehrpersonen müssten sämtliche gesellschaftlichen Herausforderungen im Alleingang meistern, ist absurd. Schulen, Eltern, Politik und Medien müssen zusammenwirken, sonst droht eine strukturelle Überforderung.

Studien kommen zum Schluss, dass 98 Prozent der 12- bis 19-Jährigen auf den sozialen Medien anzutreffen sind. Machen traditionelle Medien genug, um sie dort abzuholen?

Auf sozialen Medien haben einzelne journalistische Angebote beträchtlichen Erfolg bei jungen Menschen. Die Angebote der Tagesschau etwa werden intensiv genutzt. Das ist wichtig, damit die junge Generation lernt, zwischen journalistischen und nichtjournalistischen Beiträgen zu unterscheiden. Journalismus, das ist Informationen suchen, prüfen, überprüfen, analysieren, gewichten, darstellen, erklären, eventuell kommentieren und bei Bedarf aktualisieren oder korrigieren. Darin liegt auch die Gatekeeper-Funktion des Journalismus. Auf sozialen Medien dagegen wird im Wesentlichen bloss die fakultative Funktion erfüllt: das Kommentieren, oft inkompetent.

Sind Jugendliche heute noch an Nachrichten interessiert?

Die Neugier junger Menschen bleibt. Das ist eine anthropologische Konstante. Und in der Breite ist der Nachwuchs besser ausgebildet denn je. Aber manche Medien bedienen seine Neugierde weniger kompetent.

«Schulen sollen den Willen vermitteln, die Fakten zu kennen.»

Wie kam es zu diesem Verlust an Kompetenz?

Über Jahrhunderte finanzierten sich Zeitungen weitgehend über Kleinanzeigen. Sie waren das finanzielle Rückgrat so mancher Regional- und Lokalzeitung. Kleinanzeigen und Werbung sind abgewandert zu Onlinemärkten, Suchmaschinen und sozialen Medien. Sie erreichen dort ihr Zielpublikum viel zielsicherer. Mit anderen Worten: Der Journalismus muss sich nunmehr weitgehend selbst finanzieren. Er muss substanzieller werden, denn auf Dauer lässt sich nur Substanz verkaufen. Weil aber die Werbeeinnahmen eingebrochen sind, bauen viele Medienhäuser die Redaktionen ab. Der Verlust an Fachkompetenz ist enorm. Und nicht wenige Schrumpfredaktionen versuchen diesen Substanzverlust zu kaschieren, indem sie reisserischer und plakativer werden. Das erschwert es jungen Leuten, das Differenzieren und Nuancieren zu lernen.

Inwiefern?

Das mediale Umfeld, in dem Jugendliche aufwachsen, wird schwieriger. Jene Medien, die sich an das breite Publikum wenden, bieten ihnen weniger Reflexion und viel Surfen auf den angesagten Trends. Die Schule ist dazu da, junge Menschen mit den Werten der Aufklärung vertraut zu machen. Sie soll also den Willen vermitteln, die Fakten zu kennen und erkenntnisorientierte Diskussionen zu führen statt des Schlagabtauschs, wie er im Journalismus üblich ist. Je kompetenter Kinder und Jugendliche sind, desto grösser ist die Chance, dass sie die Medien kritisch nutzen. Ich bin eher optimistisch: Wir sind am Anfang eines gesellschaftlichen Lernprozesses. Denn die sozialen Medien sind ein junges Phänomen, das es erst seit der Jahrtausendwende gibt. Der Umgang mit neuen Medien muss stets erlernt werden. Sowohl von den Lehrpersonen als auch von Schülerinnen und Schülern.

Wie können Lehrpersonen guten Journalismus erkennen, der im Unterricht Platz finden soll?

Am Anfang steht die Frage: Was wird thematisiert? Und ebenso wichtig: Was wird nicht thematisiert? Medien ignorieren vieles. Leserinnen und Leser – insbesondere Lehrpersonen – sollten das Angebot und das Nichtangebot kritisch reflektieren. Und sich in einem zweiten Schritt fragen, ob die Informationen stringent geprüft und fundiert verarbeitet wurden. Die Medien sind schnell, die Schule ist ein Ort, an dem man sich Zeit zum Vertiefen nimmt. Das Schul- und das Mediensystem stehen einander inzwischen konträr gegenüber.

Wie meinen Sie das?

Lehrpersonen wissen um die nötige Geduld beim Vermitteln von Lernstoff und im Umgang mit jungen Menschen. Der Lehrbetrieb ist die grosse Entschleunigungsanstalt einer Gesellschaft, die lieber rasch und oberflächlich als langsam und vertiefend ist.

«Der Lehrbetrieb ist die grosse Entschleunigungsanstalt einer Gesellschaft.»

Anders gesagt: Schule wird noch wertvoller. Schülerinnen und Schüler können nicht von heute auf morgen die Kompetenzen und Kenntnisse erwerben, derer sie bedürfen. Der Medienbetrieb seinerseits ist unter dem Druck der sozialen Medien noch ungeduldiger geworden.

Medien und Schulen sind beides Wissensvermittlerinnen. Welche Parallelen sehen Sie noch?

Es sind zwei Orte, an denen die Fakten im Mittelpunkt stehen sollten. Philip K. Dick, ein Science-Fiction-Autor, hat einmal geschrieben: «Realität ist das, was bleibt, selbst wenn man nicht mehr daran glaubt.» Ein Paradox unserer sogenannten Wissensgesellschaft ist, dass die bisherigen Hauptvermittler von Fakten und Wissen – nämlich Lehrpersonen sowie Journalistinnen und Journalisten – gesellschaftlich herabgestuft werden. Etwa in Sachen Status, auch beim Einkommen und der realen Kaufkraft. In der Schweiz ist dieser Trend schwächer als woanders, aber im ganzen Westen läuft eine regelrechte Deklassierung der Wissensvermittlung.

Autor
Alex Rudolf

Datum

29.04.2025

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