Erklärung oder Ausrede? «Leo hat es nicht in die Auswahl der Fussballmannschaft geschafft; zu wenig Talent.» So klingt es schnell, wenndas anvisierte Ziel ein Wunschtraum bleibt. Auch im Schulunterricht dient angeblicher Mangel an Talent als Ausrede: Fremdsprachen? «Melissa hat dafür kein Talent.» Mathematik? «Liegt unserer Familie gar nicht.» Talent wird zum Totschlagargument, zur Erklärung, warum ein Kind «es eben nicht schafft». Oft dient das fehlende Talent auch als Entschuldigung, es gar nicht erst zu versuchen.
Die Botschaft dahinter ist fatal: Entweder man hat es «im Blut» oder man lässt es bleiben. Doch stimmt das? Ist ein Mangel an Talent der Hauptgrund fürs Scheitern? Die Bildungsrealität zeichnet ein differenzierteres Bild. Viele vermeintlich Talentierte bleiben unter ihren Möglichkeiten, während andere trotz durchschnittlicher Begabung Spitzenleistungen erbringen. Oft liegt der Unterschied in Faktoren, die mit Anstrengung und Einstellung zu tun haben, nicht im angeborenen Talent.
Nebensache Intelligenz
Studien zeigen: Fleiss und Ausdauer schlagen langfristig reines Talent. Bildungspsychologin Angela Duckworth belegte 2007 mit der Studie Grit, dass Ausdauer und Leidenschaft den langfristigen Erfolg besser vorhersagen als der Intelligenzquotient. In zwei Langzeitstudien begleiteten Forschende mehrere Jahre lang über 2000 Schülerinnen, Schüler und Studierende unter anderem an Militärakademien, Elite-Highschools und Universitäten in den USA. Das Ergebnis zeigte, dass nicht Intelligenz, sondern das beharrliche Verfolgen eines Ziels den späteren Erfolg am besten voraussagte. Schulen sollten also nicht das Talent ins Zentrum stellen.
Talent entzaubern
Nick Alchin, Autor, Pädagoge und Leiter des United World College in Singapur, eine der grössten Schulen Asiens, warnt vor einer fixierten Sicht auf Talent. In einem Artikel schreibt er, dass Schulen mit Talentfixierung ein Umfeld schaffen würden, in denen Schülerinnen und Schüler bei der ersten Schwierigkeit einknickten. Alchin fordert explizit, den Mythos vom Talent zu entzaubern. Der Fokus sollte stattdessen auf Fähigkeiten liegen, die keinerlei Talent erfordern. Erst solche Qualitäten würden eine wirkliche Grundlage für Können schaffen. Alchin schreibt in seinen Texten, dass Schulen statt Talentförderung lieber Eigenschaften wie Ausdauer, Durchhaltevermögen und Lernbereitschaft stärken sollten. Genau diese würden langfristigen Erfolg ermöglichen.
«Es geht dabei weniger um die Lerninhalte als um das Lern-Mindset.»
Solche Qualitäten will Simone Ruckli auch fördern. Sie hat die Privatschule Arborana für hochbegabte Kinder im Kanton Zürich gegründet. «Ohne Resilienz, Ausdauer und dem Wissen, wie man lernt, können selbst sehr talentierte und kluge Köpfe ins Straucheln kommen», ist sie überzeugt. Begabung allein führe nicht zu schulischem Erfolg, betont die Pädagogin. Es brauche die Kombination aus verschiedenen Fähig- und Fertigkeiten. Die grosse Mehrheit von ihnen wird erlernt und erarbeitet.
Die Denkweise als Schlüssel
Doch wenn Talent überschätzt wird, was führt dann wirklich zum durchschlagenden Lernerfolg? Die US-amerikanische Psychologin Carol Dweck zeigt in ihrer Forschung, dass eine wachstumsorientierte Denkweise langfristig mehr zum Lernerfolg beiträgt als angeborene Intelligenz. Demnach ist Schulerfolg auch das Ergebnis der richtigen Einstellung.
Für Lehrerinnen und Lehrer heisst das: Statt Lernende in Schubladen wie begabt oder unbegabt zu stecken, sollten Lehrpersonen gezielt Haltungen und Fähigkeiten fördern, die nachhaltiges Lernen ermöglichen. «Es geht dabei weniger um die Lerninhalte als um das Lern-Mindset», konkretisiert Simone Ruckli. «Dabei werden Lehrpersonen vor allem als Coaches gebraucht, die fordern, fördern, begleiten und zum Reflektieren anregen.»
Arbeit lohnt sich
Mit oder ohne Talent: Arbeit ist immer Teil des Lernprozesses. Doch kann und darf man als Lehrperson heute überhaupt noch auf Einsatz und Ausdauer pochen oder gar einfordern? Harte Arbeit scheint oft einen schlechten Ruf zu haben und häufig als altmodisch, unfair oder gar schmerzhaft empfunden zu werden. Wie kann der Wandel vom Talent- zum Arbeits-Mindset trotzdem gelingen?
«Entscheidend ist nicht das Talent.»
«Wir versuchen Anstrengung sichtbar zu machen und Lernfortschritte aufzuzeigen. Das heisst, was Lernende erreichen, basiert auf geleistetem Einsatz und persönlicher Entwicklung – und nicht auf attestiertem Talent», umschreibt Simone Ruckli das Mindset an ihrer Schule. «Entscheidend ist nicht, was Lernende an Talent und Wissen mitbringen, sondern wie sie es schaffen, beides weiterzuentwickeln, anzuwenden und daraus zu lernen.»
Wer dranbleibt, kommt weiter
Anstrengen, einsetzen, dranbleiben, dazulernen. Da ist zum Beispiel Angela: In der Schule fleissig, aber nicht brillant; eine konsequente Lernerin, konstant Fragende und Nie-Aufgebende. Oder Albert: Der Junge bekundet Mühe mit autoritärem Unterrichtsstil, schwänzt Stunden, erarbeitet sich Inhalte selbst, lernt nur, was ihn interessiert und provoziert damit seine Lehrpersonen. Was aus diesen beiden wurde? Angela Duckworth ist heute Bildungspsychologin und international bekannt für ihre Forschung. Albert Einstein hat mit seinen Theorien das Weltbild der Physik revolutioniert. Beide zeigen eindrücklich: Erfolg ist nicht nur das Ergebnis von angeborenem Talent allein. Es ist das Ergebnis von Denkstrategie, Lernhaltung und Ausdauer.
