Kinder mit ADHS

«Der Leidensdruck ist enorm»

Psychologin Stefanie Rietzler hilft Kindern mit ADHS. Doch auch viele Lehrpersonen kommen zu ihr. Im Interview verrät sie, mit welchen Fragen sie zu ihr kommen und wie betroffene Kinder erfolgreich die Schule besuchen können.

Dunkelhaarige Frau mit blauer Jacke.
Stefanie Rietzler klärt im Gespräch Missverständnisse auf, die sie im Zusammenhang mit ADHS immer wieder zu hören bekommt. Fotos: Gion Pfander

Frau Rietzler, Sie haben bereits im Studium mit Menschen mit einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gearbeitet. Wie erging es Ihnen dabei?

STEFANIE RIETZLER: Während meines Psychologiestudiums absolvierte ich ein Praktikum in einer Praxis für Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten. Mich berührte, wie sehr sich deren Familien für eine positive Entwicklung ihrer Kinder einsetzten und wie viel die betroffenen Kinder schon in ihrem emotionalen Rucksack haben. Neun- und Zehnjährige mit ADHS sassen vor mir und sagten, dass sie zu blöd seien und es besser wäre, wenn sie nicht mehr existieren würden. Da wurde mir klar: Bei diesem Thema ist der Leidensdruck enorm.

Medien vermitteln den Eindruck, dass mehr und mehr Kinder eine ADHS-Diagnose erhalten. Stimmt das?

Die ADHS-Diagnosen nehmen tatsächlich zu. Was fehlt, sind jedoch aktuelle Daten, ob es auch mehr Kinder mit ADHS gibt. Eine mögliche Erklärung hierfür: Eltern wie auch Schulen sind heutzutage besser über ADHS informiert und daher auch sensibilisiert. So schaut man bei Kindern mit bestehenden Auffälligkeiten heute diagnostisch häufiger hin.

«Erziehung kann den Verlauf beeinflussen, auslösen kann sie ADHS aber nicht.»

Gibt es dennoch Irrtümer über die Krankheit?

Vielen Kindern wird unterstellt, ADHS sei ausgeschlossen, wenn sie sich in ihrer Freizeit mehrere Stunden aufs Lego- oder Computerspielen vertiefen können. Es mangle an Willen, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren, wird dann oft gesagt. Das stimmt aber nicht. Denn ADHS ist im Kern ein Aufmerksamkeitslenkungsdefizit. Betroffene haben Schwierigkeiten, den Fokus bewusst auf von aussen vorgegebene Aufgaben zu lenken und dabei irrelevante Reize auszublenden. Dennoch kann bei Lehrpersonen oder Eltern die Haltung entstehen: Das Kind könnte ja, wenn es nur wollte. Ein zweiter Irrtum: Viele glauben, dass Eltern schuld sind, wenn ihre Kinder von ADHS betroffen sind. Aus Sicht der heutigen Forschung ist dies falsch. ADHS hat mehrere Ursachen. Die Genetik ist dabei der wichtigste Faktor. Erziehung kann zwar den Verlauf beeinflussen, auslösen kann sie ADHS aber nicht.

Welche Anliegen haben Lehrpersonen, die zu Ihnen in die Beratung kommen?

Lehrpersonen haben einen sehr grossen inneren Wunsch, diesen Kindern gerecht zu werden und ihre Sache gut zu machen. Leider scheitern sie oft an Alltagssituationen. Kürzlich sagte mir eine Lehrerin, dass sie sich für einen geduldigen Menschen gehalten hatte. Ein Kind mit ADHS bringe aber immer wieder eine Seite von ihr zum Vorschein, die sie selbst nicht möge.

Was für eine?

Sie geriet in die Rolle einer strengen, ständig kontrollierenden Lehrperson, die das Kind stets ermahnen musste.

Wozu rieten Sie dieser Lehrerin?

Sie solle Situationen, die stressig sind, aufschreiben und sich dann überlegen: Was davon kann ich akzeptieren? Wo kann ich die Umgebung besser an die Besonderheiten des Kindes anpassen? Und welche Kompetenzen will ich mit dem Kind aufbauen?

Zur Person

Stefanie Rietzler ist Psychologin, Autorin und Kolumnistin und spezialisierte sich auf das Lernen von Kindern mit ADHS. Gemeinsam mit Fabian Grolimund betreibt sie die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Unter anderem «Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS».

Was regte diese Lehrerin konkret auf?

Das Kind sprach ständig mit dem Banknachbarn und platzte mit Antworten unaufgefordert heraus, ohne sich zuvor gemeldet zu haben. Nach jeder Ermahnung der Lehrerin versicherte das Kind, es werde sich bessern, schaffte dies aber nie.

Was tun?

Ein Weg wäre, das Umfeld an die Bedürfnisse des Kindes anzupassen. Möglicherweise sitzt es ungünstig. Wir Menschen sind so programmiert, Gesichtern rund um uns herum viel Aufmerksamkeit und Interesse zukommen zu lassen. Sitzt es weit hinten oder neben dem besten Freund, ist die Ablenkung gross. Platziere ich es hingegen in der ersten Reihe, kann es sich besser auf die Lehrperson konzentrieren. Diese muss folglich weniger ermahnen. Bei Kindern, die hibbelig sind, könnte man versuchen, ihnen etwas zu geben, woran sie ihren Bewegungsdrang ausleben können. Beispielsweise ein Theraband an den Stuhlbeinen zum Gegendrücken oder ein Fidget-Toy in die Hände. Oder man vermittelt Kompetenzen, um besser mit einer Situation umgehen zu können.

Können Sie ein Beispiel aus dem Unterricht nennen?

Das Kind, das ständig reinruft, könnte man in einem ruhigen Moment beiseitenehmen und sagen, man finde es schön, dass es so aktiv am Unterricht teilnehme. Es sei aber wichtig, dass es sich vorher melde. Mit dem Kind bespricht man, welche Vorteile es hat, dies zu lernen. Kinder sagen dann oft: Die Lehrperson wäre weniger genervt, auch Klassenkameradinnen und -kameraden würden wohl seltener gereizt reagieren. Viele Menschen mit ADHS sind ambitioniert. Darum kann man sie hier abholen.

Wie kann dies konkret aussehen?

Man kann beispielsweise mit sogenannten Wenn-dann-Plänen arbeiten: Immer, wenn das Kind die Antwort weiss, aber nicht dran ist, dann schreibt es die Antwort auf oder presst die Lippen zusammen. Solche Verhaltensweisen lassen sich auch üben. So kann ich mit dem Kind vereinbaren, dass ich es morgen als Zweites aufrufe. Und übermorgen als Drittes. So erhält das Üben dieses Verhaltens einen Challenge-Charakter und der Ehrgeiz des Kindes wird geweckt.

«Man sollte sich darauf besinnen, dass jedes Kind die Klasse bereichert.»

Das alles tönt sehr zeit- und betreuungsintensiv?

Anfangs sagen viele Lehrpersonen, dass sie noch 25 andere Kinder unterrichten, die ebenfalls ihre Aufmerksamkeit verdienen und brauchen. Hier kann man sich die Frage stellen: Wie viel Zeit investiere ich ohnehin schon in dieses Kind? Die Nachgespräche und das ständige Ermahnen benötigen ebenfalls Zeit und Aufmerksamkeit. Da ist es aus meiner Sicht sinnvoller, diese Zeit in den Aufbau von Kompetenzen zu investieren. Die Alternative ist, dass Lehrperson und Kind in einer Frustrationsspirale gefangen bleiben und wenig Hoffnung auf Besserung haben.

Und was ist, wenn all dies nichts nützt?

Neben der Anpassung der Umwelt und dem Aufbau von Kompetenzen bleibt noch die Möglichkeit, bestimmte Aspekte zu akzeptieren. Dabei geht es darum, den Kern des Kindes zu würdigen und seine Stärken anzuerkennen. Akzeptanz kann auch heissen, manche Ansprüche, die das Kind aktuell überfordern, bewusst loszulassen. Dies kann beispielsweise heissen, weniger Hausaufgaben zu erteilen oder sie ganz zu erlassen. Oft entsteht dadurch mehr Energie, sich auf Veränderungen bei den dringendsten Punkten einzulassen.

Welche dieser Strategien bei ADHS kommt am häufigsten zum Einsatz?

Es geht um die Mischung. Manche Eltern haben den Anspruch, dass die Schule sich ganz ihrem Kind anpasst, während Lehrkräfte genau das Gegenteil fordern. Das Kind solle sich demnach ganz den Anforderungen der Schule beugen. Solche starren Haltungen führen oft direkt in einen Konflikt ohne Ausweg. Wichtig ist jedoch, dass Eltern und Schule gemeinsam schauen, welche Massnahmen alle Parteien entlasten.

Nicht alle Kinder mit ADHS benötigen also Medikamente, aber es gibt solche, die stark davon profitieren.

Knaben sind häufiger von ADHS betroffen als Mädchen. Weshalb?

Das hängt damit zusammen, dass Mädchen öfter das vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsbild von ADHS aufweisen. Oftmals sind sie eher unaufmerksam, verträumt oder haben ein langsames Arbeitstempo. Diese Besonderheiten werden in der Schule als viel weniger störend empfunden als das hyperaktive und impulsive Verhalten. Dieses zeigt sich in der Regel bereits im frühen Kindesalter und tritt bei Jungen statistisch häufiger auf. Mädchen versuchen auch stärker, ihre Schwierigkeiten durch viel Fleiss zu kompensieren. Der Leidensdruck zeigt sich erst mit der Zeit, wenn die Kinder bereits in der Primarschule drei bis vier Stunden täglich an den Hausaufgaben arbeiten. Ein solches Arbeitspensum ist nicht kindgerecht.

Was halten Sie von Ritalin?

Als Psychologin verschreibe ich keine Medikamente. Gemäss den Behandlungsleitlinien ist eine medikamentöse Therapie in mittelschweren bis schweren Fällen in Kombination mit anderen Interventionen empfohlen. Nicht alle Kinder mit ADHS benötigen also Medikamente, aber es gibt solche, die stark davon profitieren. Keine Familie entscheidet sich jedoch leichtfertig für den Einsatz von Methylphenidat.

Was wünschen sich Menschen mit ADHS von ihren Lehrpersonen?

Besonders von Erwachsenen, die auf ihre Schullaufbahn zurückblicken, höre ich oft, dass sie enorme Schwierigkeiten hatten. Viele berichten aber von einer wichtigen Lehrperson, die stets an sie geglaubt hat und ihnen das Gefühl gab, willkommen zu sein. Das ist vielleicht das Wichtigste, das man für betroffene Kinder in der Schule tun kann.

Autor
Alex Rudolf

Datum

21.11.2025

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