Frau Rietzler, Sie haben bereits im Studium mit Menschen mit einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gearbeitet. Wie erging es Ihnen dabei?
STEFANIE RIETZLER: Während meines Psychologiestudiums absolvierte ich ein Praktikum in einer Praxis für Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten. Mich berührte, wie sehr sich deren Familien für eine positive Entwicklung ihrer Kinder einsetzten und wie viel die betroffenen Kinder schon in ihrem emotionalen Rucksack haben. Neun- und Zehnjährige mit ADHS sassen vor mir und sagten, dass sie zu blöd seien und es besser wäre, wenn sie nicht mehr existieren würden. Da wurde mir klar: Bei diesem Thema ist der Leidensdruck enorm.
Medien vermitteln den Eindruck, dass mehr und mehr Kinder eine ADHS-Diagnose erhalten. Stimmt das?
Die ADHS-Diagnosen nehmen tatsächlich zu. Was fehlt, sind jedoch aktuelle Daten, ob es auch mehr Kinder mit ADHS gibt. Eine mögliche Erklärung hierfür: Eltern wie auch Schulen sind heutzutage besser über ADHS informiert und daher auch sensibilisiert. So schaut man bei Kindern mit bestehenden Auffälligkeiten heute diagnostisch häufiger hin.
«Erziehung kann den Verlauf beeinflussen, auslösen kann sie ADHS aber nicht.»
Gibt es dennoch Irrtümer über die Krankheit?
Vielen Kindern wird unterstellt, ADHS sei ausgeschlossen, wenn sie sich in ihrer Freizeit mehrere Stunden aufs Lego- oder Computerspielen vertiefen können. Es mangle an Willen, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren, wird dann oft gesagt. Das stimmt aber nicht. Denn ADHS ist im Kern ein Aufmerksamkeitslenkungsdefizit. Betroffene haben Schwierigkeiten, den Fokus bewusst auf von aussen vorgegebene Aufgaben zu lenken und dabei irrelevante Reize auszublenden. Dennoch kann bei Lehrpersonen oder Eltern die Haltung entstehen: Das Kind könnte ja, wenn es nur wollte. Ein zweiter Irrtum: Viele glauben, dass Eltern schuld sind, wenn ihre Kinder von ADHS betroffen sind. Aus Sicht der heutigen Forschung ist dies falsch. ADHS hat mehrere Ursachen. Die Genetik ist dabei der wichtigste Faktor. Erziehung kann zwar den Verlauf beeinflussen, auslösen kann sie ADHS aber nicht.
Welche Anliegen haben Lehrpersonen, die zu Ihnen in die Beratung kommen?
Lehrpersonen haben einen sehr grossen inneren Wunsch, diesen Kindern gerecht zu werden und ihre Sache gut zu machen. Leider scheitern sie oft an Alltagssituationen. Kürzlich sagte mir eine Lehrerin, dass sie sich für einen geduldigen Menschen gehalten hatte. Ein Kind mit ADHS bringe aber immer wieder eine Seite von ihr zum Vorschein, die sie selbst nicht möge.
Was für eine?
Sie geriet in die Rolle einer strengen, ständig kontrollierenden Lehrperson, die das Kind stets ermahnen musste.
Wozu rieten Sie dieser Lehrerin?
Sie solle Situationen, die stressig sind, aufschreiben und sich dann überlegen: Was davon kann ich akzeptieren? Wo kann ich die Umgebung besser an die Besonderheiten des Kindes anpassen? Und welche Kompetenzen will ich mit dem Kind aufbauen?

