Barrierefreiheit

Dank KI sinken die digitalen Hürden

Schweizer Schulen haben in Sachen digitaler Barrierefreiheit Aufholbedarf. Da können technische Entwicklungen helfen. Ein Projekt bei Google zeigt, wie das geht.

Patrick Schilling steht am Computer umgeben von Arbeitskolleginnen und -kollegen.
Patrick Schilling zeigt Interessierten im Accessibility Discovery Center von Google, wie er Menschen mit Behinderung die digitale Teilhabe ermöglicht. Foto: ZVG/Google

Kriegen wir das hin? Diese Frage stand im Zentrum des ersten Gesprächs zwischen Patrick Schilling, seinen Eltern und dem Schulleiter eines öffentlichen Gymnasiums im süddeutschen Tuttlingen. Schilling kam mit verkürzten Armen und Beinen zur Welt und ist teilweise auf einen Rollstuhl angewiesen. Bei besagtem Gespräch im Jahr 2005 ging es darum, ob er die Schule überhaupt besuchen kann. Er konnte. «Mit viel Pragmatismus von allen Beteiligten wurde der Schulbesuch für mich zum Normalsten der Welt», sagt er heute rückblickend.

Damals ging es um grosse Dinge wie das Überwinden von Treppen und um kleine Dinge wie das Füllfeder-Obligatorium. Für Schilling wurde Letzteres gelockert. Heute sind für Menschen, die mit einer Beeinträchtigung leben, neue Barrieren dazugekommen. Denn mit der Digitalisierung der Gesellschaft entstand ein Lebensraum, der neben neuen Möglichkeiten auch zahlreiche Schwierigkeiten aufweist. Menschen mit einer Sehbehinderung benötigen Vergrösserungssoftwares oder Screenreader.

Wer nur wenig oder gar nichts hört, ist auf Untertitelung, Gebärdensprachvideos und andere visuelle Hilfen angewiesen. Bei kognitiven Einschränkungen braucht es für das Textverständnis die Übersetzung in leichte Sprache sowie einfache Website-Strukturen. Menschen mit motorischen Einschränkungen haben teilweise Mühe mit Maus und Tastatur. Sie brauchen alternative Methoden zur Eingabe wie Sprachsteuerung oder eine angepasste Tastatur.

Weniger Barrieren im digitalen Raum

Sprachsteuerung oder alternative Tastaturen waren zu Schillings Schulzeit noch unerschwinglich. Dennoch wurde er zum versierten Computernutzer und arbeitet heute bei Google in Zürich als Manager im Bereich künstliche Intelligenz (KI). Neben seinem regulären Pensum hat er das Accessibility Discovery Center gegründet. Hier werden die neuesten technischen Mittel vorgestellt, die Menschen mit Behinderung im digitalen Raum Teilhabe ermöglichen. 

«Barrierefreiheit ist bei neuen Technologien nicht automatisch gegeben.»

Die technischen Lösungen reichen von bereits bekannten, aber stets besser werdenden Lösungen wie Videountertitelung in Echtzeit über spezifisch einstellbare Tastaturen bis hin zu Geräten, welche auf die Augenbewegung querschnittgelähmter Menschen reagieren. Letztere beeindruckt Schilling besonders. Denn kürzlich hat er einen querschnittgelähmten Jungen in London kennengelernt. Dieser hat sich selbst beigebracht, lediglich mit Augenbewegungen zu programmieren.

Auch neue Tools haben Hindernisse

Obwohl heute viele hilfreiche Tools existieren, hält Schilling fest: «Barrierefreiheit ist bei neuen Technologien nicht automatisch gegeben.» Entwicklerinnen und Entwickler müssen sich immer wieder um sie bemühen. Denn jede neue Technologie und jedes neue Tool könne Hindernisse aufweisen, denen man sich nicht bewusst ist. Bei der Bildgenerierung durch KI etwa sei ihm dies zuletzt untergekommen. «Wenn ich Bilder von mir bearbeiten liess, veränderte das KI-Tool stets meine Arme, weil sie nicht der Norm entsprechen.» Zwischenzeitlich komme dies zwar nicht mehr vor, weil die Tools verbessert wurden.

Aber dieses Beispiel zeige auf, dass Tech-Unternehmen auf Rückmeldungen angewiesen sind, um die Produkte zu verbessern. Dabei werden sie auch auf Möglichkeiten aufmerksam gemacht, die heute fehlen. Beispielsweise würden sich viele Blinde oder Sehbeeinträchtigte, die sich so stark an die Arbeit mit einem Screenreader gewöhnt hätten, eine erhöhte Geschwindigkeit bei der Textwiedergabe wünschen. «Wir Sehenden verstehen bei hohem Tempo nur Bahnhof. Doch wer daran gewöhnt ist, kann so einen Text speditiv überfliegen.»

Flickenteppich Schweiz

Wie steht es generell um die digitale Barrierefreiheit an der Volksschule? Mit der Einführung des Gleichstellungsgesetzes 1996, wonach Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen, wurden auch die Schulen in die Pflicht genommen. Im Gesetz heisst es, dass die Kantone Kindern und Jugendlichen eine Bildung bieten müssen, die deren besonderen Bedürfnissen angepasst ist. Die Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes resultiert jedoch in einem Flickenteppich. Dies bestätigt auch Amir Sahi. Er ist Geschäftsleiter der Allianz digitale Inklusion Schweiz (Adis). Getragen wird diese unter anderem vom eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. 

Sahi sieht insbesondere im digitalen Bereich Aufholbedarf: «Die digitale Barrierefreiheit gewinnt bei vielen Bildungsinstitutionen und den Kantonen erst in letzter Zeit an Bedeutung», stellt er fest. Spätestens seit der Coronapandemie seien digitale Geräte im täglichen Unterricht angekommen, wodurch auch Fragen zur Barrierefreiheit wichtiger wurden. Er beobachte, dass Kantone wie Zürich, St. Gallen und Basel-Stadt, alle Adis-Mitglieder, aber auch Genf oder die Waadt viel für den Abbau von Barrieren tun, während andere noch abwarten.

KI als Gamechanger

Wie dies gehen könnte, weiss Mo Sherif. Er ist blind und arbeitet bei der Stiftung «Zugang für alle» als Accessibility Consultant. In dieser Funktion berät er Institutionen und Unternehmen darin, wie sie ihre Websites barrierefreier gestalten können. Er ist überzeugt, dass die rasante Entwicklung im Bereich KI der vergangenen Jahre viele Barrieren abbaut.

So sei es dank der neuen technologischen Mittel sehr viel weniger aufwendig, Audiodeskriptionen für Filme und Videos oder Videos in Gebärdensprache zu erstellen. Selbst bezeichnet sich Sherif denn auch als KI-Optimist. Er geht davon aus, dass wohl jede Person einen digitalen Assistenten haben wird. Dieser kennt die allfälligen Beeinträchtigungen und bereitet Inhalte dementsprechend auf. «Die digitalen Hürden werden mit KI niedriger.»

«KI-Prompts sind eine wichtige Qualifikation.»

Schilling teilt diesen Optimismus. Doch wo Licht sei, gebe es auch Schatten. «Wer heute KI-Tools nutzt, sollte auch die entsprechenden Prompts kennen, um zu den gewünschten Resultaten zu gelangen. Das ist eine wichtige Qualifikation.» Schülerinnen und Schüler, die dies können, profitieren dafür umso mehr. Sie würden etwa dank KI eine Privatlehrerin erhalten, die nicht müde werde, ihnen immer und immer wieder etwas zu erklären. Zudem spielt Geld heute eine wesentlich kleinere Rolle als zu seiner eigenen Schulzeit. Die Anschaffung einer Sprachtext-Software hätte damals im Jahr 2005 rund 10'000 Euro gekostet, was sich weder die Schule noch seine Eltern leisten konnten. Heute sind KI-Basismodelle meist kostenlos verfügbar.

Autor
Alex Rudolf

Datum

04.11.2025

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