Rund 19 000 junge Leute erhalten in der Schweiz pro Jahr ein gymnasiales Maturitätszeugnis ausgestellt, das Eintrittsticket zur Universität. Die Maturität ist zwar eidgenössisch, die Wege dorthin hingegen variieren von Kanton zu Kanton, ja von Institution zu Institution. 197 Gymnasien gibt es in der Schweiz, davon 67 private. Wenn die Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität abgeschlossen ist, sollten diese besser aufeinander abgestimmt sein.
1. Wo steht das Projekt?
Der Startschuss für das Projekt fiel bereits 2018: Damals hat die Konferenz der Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) das Projekt auf den Weg gebracht. Der rechtliche Rahmen wurde 2023 genehmigt.
Das Projekt befindet sich aktuell quasi auf halbem Weg.
Per 1. August 2024 hat die EDK nun den neuen Rahmenlehrplan (RLP) in Kraft gesetzt. Damit ist das Projekt auf nationaler Ebene abgeschlossen, auf kantonaler Ebene beginnen die Arbeiten vielerorts aber erst. Das Projekt befindet sich also auf halbem Weg. Die ersten Kantone werden zwar schon 2026 oder gar 2025 bereit sein, die letzten aber erst 2038.
2. Warum gibt es so grosse Unterschiede?
Einige Kantone haben die Gymnasien bereits koordiniert, andere nicht. Zudem sind die Vorbereitungen in einigen Kantonen schon angelaufen, zum Beispiel in Zug, St. Gallen, Nidwalden und Appenzell Ausserrhoden. Ein Spezialfall ist Bern. Dort sind im deutschsprachigen Kantonsteil die Voraussetzungen für eine rasche Umsetzung vorhanden, im französischen aber nicht. Dieser muss zuerst wie die Kantone Neuenburg, Waadt und Jura auf das vierjährige Gymnasium umstellen. Entsprechend aufwendiger sind die Vorbereitungen. Auch der Kanton Zürich braucht länger. Momentan haben die 22 öffentlichen Gymnasien noch je eigene Lehrpläne. Diese müssen nun angepasst werden.
3. Werden die Ziele des Projekts erreicht?
Die Reform bringt eine Angleichung der Dauer auf vier Schuljahre, zwei neue Grundlagenfächer (Informatik sowie Wirtschaft und Recht), mehr interdisziplinär zu bearbeitende Themen und sie soll die schweizweite Vergleichbarkeit der gymnasialen Maturität erhöhen. Letztere soll den prüfungsfreien Zugang zur Universität «langfristig gewährleisten», wie EDK-Präsidentin Silvia Steiner in einer Mitteilung zitiert wird. Aus Sicht von Lucius Hartmann, Präsident des Vereins schweizerischer Gymnasiallehrpersonen (VSG), werden die Ziele der Reform im Grossen und Ganzen erreicht. Eine Einschränkung ist bei der Chancengerechtigkeit zu machen. Es spielt künftig zwar keine Rolle mehr, wo der Abschluss gemacht wird. Die Unterschiede bei den Maturitätsquoten und den Übertrittsverfahren in der Volksschule hingegen bleiben bestehen.
4. Wie beim Lehrplan 21 kam Kritik auf, der Lehrplan sei überfrachtet. Ist das so?
Zwar wurden im RLP aufgrund dieser Kritik die Anzahl Lerngebiete reduziert. Allerdings wurden viele Lerninhalte einfach in die verbleibenden Gebiete verteilt. Die Entschlackung sei insofern eine «Mogelpackung», sagt Hartmann vom VSG. Um den Lernstoff zu bewältigen, müsste das Gymnasium eigentlich ein halbes Jahr länger dauern. Der Ausbau bei den Grundlagenfächern bringe mehr Breite, aber diese werde auf Kosten der Tiefe gehen.
5. Warum führte die Umstellung auf Kompetenzen nicht zu so vielen Diskussionen wie beim Lehrplan 21?
Dank der breiten Diskussion im Rahmen des Lehrplan 21 erzeugte das Thema weniger Emotionen. Eine wissenschaftlich abgestützte Definition des Kompetenzbegriffs, die im Rahmen des Projekts erarbeitet wurde, trug das Ihre zum sachlichen Umgang bei. An Gymnasien wird Wissen wichtig bleiben. Hartmann bringt es auf einen kurzen Nenner: «Schülerinnen und Schüler müssen können, wissen und wollen.»
6. Bleibt die Maturitätsquote, wie sie ist?
Dieses Thema war nicht Teil des Projekts. In den letzten Jahren nahm sie leicht zu. 2022 lag sie bei 22,6 Prozent, in der lateinischen Schweiz aber deutlich höher. Genf kommt beispielsweise auf eine Quote von 33,6 Prozent, Schaffhausen nur auf eine von 12,9. Die Quote variiert auch zwischen städtischen und ländlichen Gebieten stark. Im zürcherischen Bezirk Meilen beträgt sie laut Bundesamt für Statistik über 40 Prozent. Zudem ist festzuhalten, dass es Kinder von Akademikerinnen und Akademikern deutlich häufiger ans Gymnasium schaffen. Diesen Befund bestätigen kürzlich veröffentlichte Resultate der TREE-Studie der Universität Bern.
7. Wie stellt sich der VSG zum Thema?
Der VSG drängt auf eine Verbesserung der Chancengerechtigkeit: «Wer die Intelligenz und die Fähigkeiten mitbringt, soll es ans Gymnasium schaffen», betont Hartmann. Umgekehrt müssten aber auch nicht alle mit einem IQ über 120 ans Gymnasium. Bei einem Laufbahnentscheid seien auch die Motivation oder die persönliche Situation einzubeziehen. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien sei die Volksschule gefordert.
«Nicht alle mit einem IQ über 120 müssen ans Gymnasium.»
Eine gezielte Förderung müsse früh genug beginnen, um am Ende der Volksschulzeit Früchte zu zeitigen. Die Erfahrung zeige aber, so Hartmann, dass jene, welche die schulischen Voraussetzungen mitbrächten, in der Regel trotz sprachlichem Handicap das Gymnasium meisterten.
8. In Basel lässt sich Französisch bald abwählen. Was bedeutet das?
Für Schlagzeilen sorgte in Basel, dass Gymnasiastinnen und Gymnasiasten künftig Französisch zugunsten einer anderen Landessprache abwählen können. Mit dieser Massnahme will Basel-Stadt nicht zuletzt das Italienisch stärken. Gemäss dem 2023 verabschiedeten Maturitätsanerkennungsreglement ist dies weiterhin zulässig. Auch andere Kantone kennen solche Regelungen.
9. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sei ideologisch gefärbt, monieren bürgerliche Kreise. Zu Recht?
BNE ist ein interdisziplinär zu vermittelndes Querschnittthema. Vor allem bürgerliche Kreise witterten ideologische Indoktrination. Tatsächlich gab es im Rahmen der Vernehmlassung zum RLP auch Rückmeldungen, die auf sachlichere Formulierungen drängten, etwa aus Luzern. Der Kanton liess aufgrund kritischer Medienbeiträge verlauten, dass man die Einwände in der Endredaktion berücksichtigt habe und man nun vollumfänglich hinter dem Bereich BNE stehe.