Berufliche Orientierung

Jugendliche entdecken auf dem Bauernhof, zu was sie fähig sind

Einmal pro Woche wechseln Jugendliche mit Migrationshintergrund von der Schule auf den Bauernhof. Sie lernen dabei Deutsch und so manches mehr. Zum Beispiel wie man der Moderhinke bei Schafen vorbeugt.

zwei junge Männer halten ein Schaf. Eine Frau kennzeichnet es mit einem blauen Stift auf der Stirn
Jedes Schaf, von dessen Hufen schon Abstriche genommen worden sind, wird mit blauer Farbe markiert. Fotos: Claudia Baumberger

Es ist ein kühler Herbsttag im Solothurner Jura. 31 junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren mit Migrationshintergrund schnipseln Gemüse, sägen Holz, pressen Saft oder locken Schafe. Alle sind noch nicht lange in der Schweiz. Auf dem Biohof Waldenstein von Lea Zaugg und Stefan Schneitter in Beinwil beteiligen sie sich an der Arbeit, die auf einem Bauernhof anfällt.

Einmal pro Woche tauschen die zwei Integrationsklassen des «Zentrums für Brückenangebote Basel» (ZBA) das Klassenzimmer gegen die Arbeit auf dem Hof aus. Lea Zaugg ist Lehrerin und Biobäuerin. Sie unterrichtet mit einem 50-Prozent-Pensum am ZBA Basel und führt mit ihrem Partner, dem Biologen Stefan Schneitter den Biohof Waldenstein. Die beiden sind es auch, die den Verein Pontis für das Schulprojekt gegründet haben. 

Preisgekröntes Projekt

Das Projekt wurde im November 2025 mit dem Richard-Beglinger-Preis ausgezeichnet. Den Preis erhalten innovative Projekte im Bereich der beruflichen Orientierung. Der Biohof ist eines davon.

Über den Richard-Beglinger-Preis

Mit dem Richard-Beglinger-Preis werden alle zwei Jahre innovative Projekte ausgezeichnet, die Jugendliche in ihrer beruflichen Orientierung unterstützen. Der Preis ist mit 10 000 Franken dotiert. Vergeben wird er von der Fachkommission berufliche Orientierung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Dieses Jahr entschied sich die Jury erstmals in der Geschichte des Preise, zwei Projekte auszuzeichnen. Preisträger sind das Schulprojekt des Biohofs Waldenstein und das Projekt «Lernende bauen Zukunft». Die Preisverleihung fand am 19. November 2025 im Rahmen der Bildungsmesse Swiss Didac in Bern statt. Das Preisgeld ging zu gleichen Teilen an die prämierten Projekte.

Auf dem Bauernhof erhalten die Jugendlichen einen ersten praktischen Einblick in den Alltag verschiedener Berufe. Das erweitert ihren Horizont für die Berufswahl. Sie können herausfinden, was sie interessiert, was sie gerne machen und was sie gut können. 

Zaugg und Schneitter haben das Schulprojekt für Integrationsklassen des ZBA Basel zusammen mit den Lehrerinnen Julia Polymeras, Mariella Corbo und Jutta Chresta auf die Beine gestellt. Auf dem Bauernhof leiten sie jeweils eine Arbeitsgruppe. Das kann wie an diesem Herbsttag das Kochen eines Mittagessens sein, die Herstellung eines Schuhgestells für die Jurte, Mosten oder die Vorbereitung eines Tierarztbesuches. 

Beiläufig den Wortschatz erweitern

Gekocht wird draussen. Die Küche erinnert an ein Pfadilager. Die Jugendlichen waschen Salat, brutzeln Zwiebeln oder bereiten die Zutaten für ein Tiramisu vor. Gelächter, gebrochenes Deutsch und fliessendes Spanisch wechseln sich ab und dazu wandert hin und wieder ein Löffelbiskuit in einen Bauch. Eine andere Gruppe presst Früchte zu Saft, plaudert dazu auf Deutsch und Ukrainisch. 

Gekocht wird draussen. Die Küche erinnert an ein Pfadilager.

Die Jugendlichen verstehen wenig Deutsch, lernen aber beim Arbeiten die Worte, die es dazu braucht: Äpfel, Trauben, waschen, pressen, einfüllen oder Pasta, Zwiebeln, Karotten, Tomaten, waschen, rüsten, zerkleinern, anbraten. Es gibt auch nicht alltägliche Wörter auf einem Bauernhof: Moderhinke ist eines davon. Moderhinke ist eine schmerzhafte, bakterielle Klauenkrankheit bei den Schafen. Alle Schafherden werden regelmässig auf den Erreger hin untersucht.

Heute hat sich der Tierarzt für die Probeentnahme angemeldet. Zaugg erklärt mithilfe von Fotos, was die Moderhinke ist und was der Tierarzt machen wird. Im Anschluss daran bereiten die Jugendlichen den Tierarztbesuch vor. Alles muss bereit sein, wenn der Tierarzt eintrifft. Junge Schafe werden von den Ziegen getrennt und die Mutterschafe mit Bock von einer fernen Weide geholt. Die ganze Gruppe arbeitet gut zusammen. Dann und wann muss sie einem ausbüxenden Schaf nachspringen, damit alle Schafe beisammen bleiben.

Pünktlich erscheint der Tierarzt. Zwei junge Männer aus Afghanistan packen die Schafe wie Profis: bestimmt, aber doch ruhig, so dass die Schafe nur einen kurzen Moment in einer ungemütlichen Position sind und der Tierarzt an allen vier Klauen einen Abstrich machen kann. Ein ukrainisches Mädchen markiert die untersuchten Schafe danach mit einem blauen Stift. So ist klar, welche schon dran gewesen sind und welche noch nicht. Die neuen Wörter für die Jugendlichen aus diesem Ereignis sind Moderhinke, Wattestäbchen, Tierarzt, Seuche, locken und trennen.

Drei Jugendliche aus Syrien und Afghanistan zimmern derweil ein Schuhregal. Die drei arbeiten Hand in Hand, gehen gekonnt mit elektrischer Säge und Bohrer um. «Es ist interessant, ich mache das gerne», kommentiert einer von ihnen seine Arbeit. Differenzierter können sie sich auf Deutsch noch nicht ausdrücken, doch ihre frohen Gesichter, ihre Hingabe und Konzentration bei der Arbeit, ihr guter Draht zu den Tieren zeigen, dass es ihnen auf dem Bauernhof sehr gut gefällt.

Aus Wünschen werden realistische Ziele

Das Pilotprojekt vor einem Jahr bestärkte die Organisatorinnen und Organisatoren vom Sinn des Bauernhoftages: «Von den Schnupperlehrstellen haben wir als Rückmeldung erhalten, dass unsere Jugendlichen Werkzeuge benennen und brauchen könnten. Sie würden exakt messen und arbeiteten mit», sagt Polymeras. Nebst handwerklichen Arbeiten wie Kochen, Schreinern oder den Umgang mit Tieren erwerben sie weitere praktische und soziale Kompetenzen. Sie lernen Verantwortung zu übernehmen und im Team zusammenarbeiten. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl ihre Selbstständigkeit. Und darüber hinaus, lernen sie sich realistisch einzuschätzen, wie Zaugg berichtet.

Viele Jugendliche hätten eine fixe Vorstellungen, was sie werden wollten. «Doch dieses Ziel ist manchmal unrealistisch», sagt sie. Auf dem Bauernhof könnten sie viele verschiedene Tätigkeiten ausprobieren. Dabei stellten sie fest, dass ihnen auch die Arbeiten in der Küche, mit Holz oder Metall, mit Tieren oder Menschen gut gefallen würden, so Zaugg.

Sie würden dadurch offener und bekämen auch Lust, andere Berufe anzusehen. Diese Flexlibilität sei manchmal das Zünglein an der Waage beim Finden einer Anschlusslösung. Jedenfalls verbessere dies die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

PROJEKT «LERNENDE BAUEN ZUKUNFT»

Am Anfang stand ein Pausenkiosk

Am Anfang des Projekts  «Lernende bauen Zukunft» stand ein Gespräch zwischen einer Lehrerin und einem Handwerker, dem Bauunternehmer Thomas Bolliger. In seiner Erinnerung verlief das etwa so: «Du, ich habe eine Kebabbude gekauft, könntest du mir etwas Material für die Fassade geben», fragte ihn eine Lehrerin vom Schulhaus Gräfler in Schaffhausen. «Wir möchten einen Pausenkiosk daraus machen.» Bollinger, Inhaber eines grossen Betriebs in den Bereichen Gebäudetechnik und Gebäudehülle. wandte ein: «Eine Fassade alleine genügt nicht, du brauchst noch eine Malerin, einen Spengler, eine Elektrikerin, einen Glaser ...».

Während er aufzählte, kam ihm eine Idee: Daraus liesse sich doch ein Projekt machen. Man müsste Lernende unterschiedlicher Berufe und Firmen zusammensuchen. Sie könnten dann selbstständig diesen Pausenkiosk projektieren und bauen. 

Und so wurde es dann auch gemacht. Das gemeinsame Werk von Lernenden mit punktueller Mithilfe von Schülerinnen und Schülern wurde ein Erfolg. Es war ein Motivationsschub für die Lernenden und ein Eins-zu-eins-Einblick in verschiedene Bauberufe für die Jugendlichen der Schule. 

Aktuell beteiligen sich 14 Firmen

Um das Pilotprojekt weiterzuentwickeln, wurde der Verein «Gemeinsam gegen den Fachkräftemangel» gegründet. Inzwischen engagieren sich 14 verschiedene Firmen für das Projekt. Alle Firmen stellen die Arbeitsleistung der Lernenden und deren Betreuung kostenlos zur Verfügung, nur das Material muss vom Bauherren übernommen werden.

«Wir wollen unsere Lernenden motivieren, indem sie selber Verantwortung übernehmen und Erfahrungen sammeln können.»

Die Projekte, die beispielsweise Schulen eingeben, werden vom Projektteam des Vereins ausgewählt und dann Lernenden aus je einem Bauberuf zur Projektierung und Ausführung übertragen. Die Ausbildenden stehen den Lernenden unterstützend und beratend zur Seite. Inzwischen sind neben dem Pausenkiosk, ein Spielgeräteschopf in der Schule Beringen und ein Umbau in der Schule Thayngen entstanden.

«Wir wollen unsere Lernenden motivieren, indem sie selber Verantwortung übernehmen und Erfahrungen sammeln können», sagt Bollinger. Den Schülerinnen und Schülern wiederum zeigt der direkte Kontakt, dass Bauberufe cool sind, ist Bollinger überzeugt. Sie ziehen danach vielleicht sogar eine Schnupperlehre oder Lehre in Betracht», folgert Bollinger. In den letzten Jahren sei mit dem Projekt ein sehr gutes Netzwerk mit Schulen und Lehrpersonen entstanden. Das bringe die Bauberufe näher zur Schule.

Autor
Claudia Baumberger

Datum

01.12.2025

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