Teamarbeit im Theater

«Ich versuche, Probleme nicht allein zu lösen»

Regisseur Sebastian Nübling kennt die hierarchischen Strukturen der grossen Stadttheater. Umso wichtiger ist ihm der kreative Spielraum in der Probe, wo er sowohl mit Profis als auch mit Jugendlichen arbeitet. Denn Theater ist für ihn kreative Teamarbeit.

Sebastian Nübling
Als Theaterregisseur ist Sebastian Nübling wichtig, dass alle Beteiligten sich einbringen. Fotos: Eleni Kougionis

BILDUNG SCHWEIZ: Von Regisseurinnen und Regisseuren hat man ein ähnliches Bild wie von Klassenlehrpersonen: Sie haben die Fäden in der Hand. Können Sie tun, was Sie wollen?

SEBASTIAN NÜBLING: Nur zum Teil. Im Stadttheater bin ich an verschiedene institutionelle Abläufe gebunden. Theater, wie wahrscheinlich auch Schulen, haben wie alle Institutionen hierarchische Strukturen. Diese sind träge. Gerade die ersten Schritte einer Produktion beanspruchen entsprechend viel Zeit und Koordination.

Inwiefern?

Wenn ich mich für ein Stück oder Thema entschieden habe, braucht es zunächst vor allem ein paar Monate Zeit für die Entwicklung und Umsetzung eines Bühnenbildes. Darin stecken zentrale, konzeptionelle und ästhetische Entscheidungen. Die treffe ich zusammen mit Bühnen- und Kostümbildnerinnen, Musikern oder auch Videoleuten. Gemeinsam entwickeln wir den Rahmen für das Stück, noch bevor die Proben mit den Schauspielerinnen und Schauspielern beginnen.

Kann das Schauspielensemble das Stück also noch mitprägen?

Auf jeden Fall. In den Proben gibt es noch viel Spielraum. Da ist es mir auch wichtig, mit dem Ensemble auf Augenhöhe zu arbeiten. Die Darstellerinnen und Darsteller dienen ja nicht nur als Medium für mich als Regisseur. Das sind alles eigenständige kreative Persönlichkeiten.

Lange galt der Regisseur als Chef. Sind diese Zeiten vorbei?

Das ist ein veraltetes Verständnis von Theater. Es gibt sicher noch jene, die autoritärer arbeiten. Die Atmosphäre im Team kann trotzdem angenehm sein. Mein Stil ist es jedoch nicht.

Welches Arbeitsklima brauchen Sie?

Im Proberaum brauche ich die Zusammenarbeit. Schauspielerinnen und Schauspieler sollen ihre Ideen einbringen. Da bin ich einer unter vielen. Aber bevor es auf die Bühne geht, betrachte ich die Produktion nochmal als Ganzes. Dann fälle ich noch letzte Entscheidungen – allerdings auch da in Absprache mit dem Team.

«Es gibt manchmal Menschen, die nicht gut zusammenarbeiten können.»

Zur Person

Sebastian Nübling ist Regisseur. Er hat Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim studiert und inszeniert seit den späten 1990er-Jahren regelmässig Produktionen im deutschsprachigen Raum – unter anderem am Maxim Gorki Theater in Berlin und am Schauspielhaus in Hamburg und Zürich. Für das Theater Basel hat er bereits mehrfach für das Junge Theater mit jugendlichen Laiinnen und Laien Produktionen erarbeitet.

Wie schaffen Sie es, mit einem Team aus unterschiedlichsten Persönlichkeiten am Ende eine gemeinsame Vision umzusetzen?

Ich bleibe offen für Vorschläge und versuche alle einzubinden. Meine eigenen Ideen umschreibe ich möglichst klar. Sie sollen verstehen, warum ich bestimmte Entscheidungen gefällt habe. Den Ausschlag können konzeptionelle Gründe geben. Manchmal will ich aber auch einfach eine Idee ausprobieren – das kann natürlich auch in die Binsen gehen. Dann revidiere ich meinen Entscheid.

Kommt es auch zu Konflikten?

Es gibt manchmal Kombinationen von Menschen, die nicht gut zusammenarbeiten können, weil sie unterschiedliche Spieltypen sind oder verschiedene Weltanschauungen haben. Das kann zu Frustrationen oder gar Aggressionen führen.

Wie gehen Sie damit um?

Ich konzentriere mich auf unseren Auftrag. Unsere Zeit ist nämlich knapp. Wir haben bis zur Premiere in der Regel sieben bis acht Wochen Zeit zum Proben. Hier haben wir alle dasselbe Ziel, nämlich die Aufführung.

Das reicht?

Manchmal gibt es Probleme, die kann man nicht lösen. Manche Leute brauchen wiederum mehr Anweisung oder mögen es nicht, wenn der Regiestil zu offen ist. Darauf muss ich reagieren, ihnen eine Richtung weisen und die richtigen Worte finden.

Das erschwert aber bestimmt die kreative Arbeit?

Es kann ermüdend sein. Das gilt generell, wenn man nicht weiterkommt. Ich habe gelernt, in solchen Momenten geradeheraus zu sagen: Leute, ich weiss gerade nicht weiter.

Wie machen Sie dann trotzdem weiter?

Ich versuche, Probleme nicht allein zu lösen, sondern hole die Leute wieder rein. So befreie ich mich selbst auch von der Vorstellung, dass ich allein alles lösen muss. Irgendwer hat dann wieder eine Idee und weiter geht’s.

Sie arbeiten nicht nur mit Profis. Beim Jungen Theater Basel proben Sie mit Jugendlichen. Um was geht es dort?

Es ist zunächst wichtig, dass sie mich trotz Altersunterschied nicht als Lehrer erleben. Ich gebe zwar handwerkliche Tipps zur Schauspieltechnik, doch es geht mir auch mit Jugendlichen darum, gemeinsam an einer Geschichte zu arbeiten. Inhaltlich ist die Arbeit wie mit Profis.

Nämlich?

Ich frage nach ihren Vorstellungen, dem Bezug zu ihrem Leben: Wie findet ihr das? Was fällt euch dazu ein? Der Altersunterschied zeigt sich dann höchstens noch bei den Lebenserfahrungen. Also dabei, wie sie Themen im Alltag erleben.

«Junge Leute sollen Kunst und Theater nicht getrennt vom Leben wahrnehmen.»

Theater lebt von diesen persönlichen Interpretationen. Wie unterstützen Sie die Individualität in Ihrer Gruppe?

Ich gebe meinen Leuten den Raum für persönlichen Ausdruck und fordere sie auf, diesen Spielraum auch zu nutzen. Davon ausgehend kann ich ihnen dann zeigen, was sie noch stärker einbringen können.

Individuen sollen individuell bleiben. Wie kommen Sie damit zurecht?

Für mich stellt sich jeweils die Frage, wie ich einzelne Personen am besten erreichen kann, damit sie sich abgeholt fühlen oder überhaupt erst in Fahrt kommen. Manche holen ihre Inspiration mehr aus der Theorie, andere eher durchs Handeln.

Viele Menschen kommen in der Schule zum ersten Mal mit Theater in Berührung. Wie kann man Kinder abholen, damit ihr Spiel einen individuellen Ausdruck erhält?

Junge Leute haben oft nur eine eingeschränkte Vorstellung davon, was Theater sein kann. Dann stehen sie da und geben nur Text wieder. In der Pause verhalten sie sich oft natürlicher. Da kann ich dann etwas in ihrem eigenen Verhalten oder in ihrer Körpersprache aufzeigen, das sie für ihre Figur nutzen können. Ich versuche ihnen so Wege zu zeigen, wie sie sich die Figur, die sie spielen, zu eigen machen können. Sie sollen Kunst und Theater nicht getrennt vom Leben wahrnehmen.

Umgekehrt kann man mit Szenenspiel auch ein Gruppengefühl schaffen. Nutzen Sie das auch für Ihre Arbeit?

Man macht im Theater grundsätzlich viele Umwege, um in der Gruppe etwas zu entwickeln. Zumindest arbeite ich so. Es gehört dazu, in vielen Richtungen zu suchen und auszuprobieren. So kann man manchmal auch total im Kraut landen. Es ist keine pädagogische Taktik, sondern eine kreative Technik. Gerade bei gelungenen Produktionen wurde viel ausprobiert und dann etwas Stimmiges gefunden.

Man kann sich auf diesen Umwegen aber auch verlieren, sagen Sie.

Das nehme ich in Kauf. Denn Umwege müssen sein. Es passiert dauernd, dass so Ideen auftauchen, mit denen man nicht gerechnet hätte. Es kann auch geschehen, dass sich die Leute plötzlich gegenseitig inspirieren. Natürlich gibt es auch Vorschläge, die ins Nichts führen. Das kann man nur schwer steuern. Nach der Phase des Ausprobierens kommt am Ende aber immer der Punkt, wo man sich entscheiden muss.

«Wir wollen unser Leben im Hier und Jetzt abbilden.»

Was ist eigentlich einfacher: die Arbeit mit modernem Stoff oder an einem berühmten klassischen Theaterstück?

Einfacher und schwieriger sind vielleicht die falschen Kategorien. Für mich liegt die Herausforderung darin, die Themen und Sprache älterer Stücke für die Gegenwart relevant zu machen.

Ihr aktuelles Stück «Kranke Hunde» ist sehr modern.

Ja, die Autorin Ariane Koch hat den Text extra für das Theater Basel verfasst. Da ist die Gegenwart bereits hineingeschrieben. Der Unterschied zu klassischen Stücken ist aber letztlich nicht so gross. Die Textformen und Strukturen sind natürlich anders. Im Kern geht es aber immer um unser Leben im Hier und Jetzt. Das wollen wir abbilden, egal wie alt der Stoff ist.

Bevorzugen Sie moderne Stücke?

Ja, eindeutig. Ich inszeniere vor allem zeitgenössische Literatur. Da habe ich auch langfristige Arbeitsbeziehungen, zum Beispiel mit Sibylle Berg, Simon Stephens oder neu auch mit Ariane Koch. Ich habe früher oft ältere Stücke inszeniert. Heute habe ich dazu nicht mehr so viel zu sagen. Jetzt arbeite ich eher mal an Projekten ohne Text, bei denen wir in der Probe ein Stück gemeinsam entwickeln.

Wie motivieren Sie denn das Ensemble, wenn ein Stück als Auftrag vom Theater schon vorgegeben ist?

Dann ist es mein Job herauszufinden, was mich an einem Text besonders interessiert. Damit ich das auch dem Ensemble vermitteln kann und sich die Leute dann entsprechend kreativ ins Stück einbringen können.

Autor
Patricia Dickson

Datum

12.04.2024

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